„Hirtir ero oc fiórir, þeirs af hæfingar á gaghálsir gnaga: Dáinn oc Dvalinn, Duneyrr oc Duraþrór. [...] Ascr Yggdrasils drýgir erfiði, meira, enn menn viti;
hiortr bítr ofan, enn á hliðo fúnar, scerðir Níðhǫggr neðan.[1]“
„Vier Hirsche sind's auch, die mit gebogenen Hälsen an den Trieben [Yggdrasils] nagen: Dainn und Dwalinn, Duneyrr und Durathror. [...]
Die Esche Yggdrasil erduldet Mühsal, mehr als man weiß; der Hirsch weidet oben, und an der Seite fault es, Nidhögg beschädigt unten.[2]“
– Grímnismál, Stophe 32, 35 (Übersetzung nach Arnulf Krause)
In der Prosa-Edda wiederholt Snorri Sturluson in der Gylfaginning die Beschreibung der Strophe 33 des Lieds Grímnismál und zitiert im Anschluss daran Strophe 35. Die zurückgebogenen Hälse bleiben unerwähnt, die Triebspitzen, die die Hirsche essen, sind bei ihm Blätter beziehungsweise Nadeln, je nachdem wie man altnordisch barr übersetzt, das beides heißen kann.
„[...] en fjórir hirtir renna í limum asksins ok bíta barr.
Þeir heita svá: Dáinn, Dvalinn, Duneyrr, Duraþrór.“
„Vier Hirsche dringen ins Geäst [Yggdrasils] und beißen die Blätter ab.
Sie heißen Dainn, Dwalinn, Duneyrr und Durathror.[3]“
Die Vorstellung vom Hirsch am Weltenbaum könnte wie der Weltenbaum selbst bereits auf indogermanische Zeit zurückgehen.[5] Hirsche am Weltenbaum gibt es auch in iranischen Darstellungen wie zum Beispiel auf der Goldkrone von Novocherkassk, bei der ein Baum von zwei Hirschen umrahmt wird.[6] Nach anderer Ansicht sind die Hirsche am Weltenbaum kein indogermanisches Erbe, sondern sie gehen auf den Einfluss einer vorderasiatischen Hochkultur zurück, die entweder unmittelbar oder mittelbar durch das Christentum die nordische Mythologie beeinflusste. Insbesondere im Christentum ist die Darstellung vierer Hirsche an den vier Paradiesflüssen ein häufiges Motiv.[7]
Das Lied Grímnismál nennt zwar in Strophe 33 vier Hirschnamen, hingegen weidet laut Strophe 35 nur ein Hirsch oben an der Esche Yggdrasil. Da beim Baum Lärad, den man für eine Variante des nordischen Weltenbaums hält, ebenso nur ein Hirsch (namens Eikthyrnir) genannt wird, wird deswegen vertreten, dass zum nordischen Weltenbaum ursprünglich auch nur ein Hirsch gehörte. Das Viererkonzept würde somit der Vervielfachung des Drachen Nidhöggr entsprechen, der unterhalb von Yggdrasil mit einer Reihe anderer Schlangen haust. Deswegen soll das Namenskonzept der vier Hirsche aus späterer, also mittelalterlicher Zeit, stammen.[8]
Dvalar aus den Thulur dürfte wahrscheinlich mit Dwalin identisch sein.[9] Es wird auch vertreten, dass Dvalar der ursprünglichere Hirschname sei, da es noch einen Zwerg in der nordischen Mythologie namens Dwalin gibt.[10] Jedoch gibt es neben Dwalin auch noch den Zwerg Dain.[11] Ob ein Zusammenhang zwischen den Hirschen und den beiden Zwergen gleichen Namens besteht, ist nicht überliefert. Es gibt die Vorstellung, dass Zwerge ein Hirschgewand nutzen können, um sich bei Tag vor den Sonnenstrahlen zu schützen, die sie ansonsten in Stein verwandeln würden.[12]
Dwalin, altnordisch Dvalinn, könnte auf altnordisch dvala „verzögern“[13][16] zurückgehen. Eine Deutung lautet demnach „der Langsame, der Schlafende“.[9][17]
Dvalar, altnordisch Dvalarr, stammt vermutlich ebenso wie Dwalin von altnordisch dvala ab,[16] so dass beide Namen wohl dasselbe bedeuten.
Duneyr, altnordisch Duneyrr, ist nur schwer deutbar. Eine Deutung lautet „Feuergänger“,[13] eine andere „Dunkelohr“[18], eine weitere „der, mit den braunen oder daunigen Ohren“.[19]
Die Bedeutung des Namens Durathror, altnordisch Duraþrór, ist dunkel.[20] Das Wort setzt sich vielleicht zusammen aus altnordisch dura „schlummern“, durr „Schlummer“ oder dur „Stille“ und altnordisch þrór „Zwerg, Eber, Schwert“ beziehungsweise „Gedeihlicher“ (siehe Beiname Odins).[13] Alle Kombinationen sind denkbar. Vorgeschlagen wird zum Beispiel „Schlummer-Eber“.[9]
Deutungen der Hirsche stellen ihre Vierzahl in den Vordergrund. Demnach könnten sie für die vier Hauptwinde stehen[21] oder als Zwerge in Hirschgestalt Repräsentanten der vier Himmelsrichtungen sein.[12] Genauso gut könnten sie auch für die vier Jahreszeiten stehen und das sich immer wieder erneuernde Leben versinnbildlichen. Das Abfressen der Blätter des Weltenbaums wird auch gedeutet als Knospen = Stunden, Blüten = Tage und Zweige = Jahreszeiten.[22]
↑Übersetzung und Zitation nach Arnulf Krause: Die Götter- und Heldenlieder der Älteren Edda. Philipp Reclam jun. Verlag, Stuttgart 2004, ISBN 978-3-15-050047-7
↑Übersetzung und Zitation nach Arnulf Krause: Die Edda des Snorri Sturluson. Philipp Reclam jun. Verlag, Stuttgart 1997, ISBN 978-3-15-000782-2
↑Þulur III 34 − Hjartar heiti = Snorri Sturluson: Prosa-Edda: Nafnaþulur Sækonungar, 96 − Hjörtr. Die Hirschnamen lauten in dieser Reihenfolge: Hjörtr, dyraþrór, hliðr, eikþyrnir, duneyrr, dáinn, dvalarr, mótroðnir.
↑Jan de Vries: Altgermanische Religionsgeschichte, Band 2: Religion der Nordgermanen. Verlag Walter de Gruyter & Co., Berlin – Leipzig 1937, § 328
↑ abKveldulf Gundarsson: Teutonic Religion – Folk Beliefs & Practices of the Northern Tradition. Llewellyn Publications Inc., 1993. Electronic Edition 2002, S. 9
↑ abcdGerhard Köbler: Altnordisches Wörterbuch. 2. Auflage. 2003, online (Memento des Originals vom 12. April 2009 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/homepage.uibk.ac.at
↑John Lindow: Handbook of Norse Mythology. 2001, S. 96
↑Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie (= Kröners Taschenausgabe. Band 368). 3., völlig überarbeitete Auflage. Kröner, Stuttgart 2006, ISBN 3-520-36803-X, S. 68.
↑Hansferdinand Döbler: Die Germanen. Gondrom Verlag, Bindlach 1992 (nach der Ausgabe C. Bertelsmann Verlag, München 1975), ISBN 978-3-8112-0935-0, S. 140 (Stichwort: Hirsche)