Die Likelihood-Funktion (oft einfach nur Likelihood), gelegentlich auch Plausibilitätsfunktion oder Mutmaßlichkeitsfunktion genannt,[1] ist eine spezielle reellwertige Funktion in der mathematischen Statistik, die aus einer Wahrscheinlichkeitsdichtefunktion oder einer Zähldichte gewonnen wird, indem man einen Parameter der Dichte als Variable behandelt. Zentrale Verwendung der Likelihood-Funktion ist die Konstruktion von Schätzfunktionen durch die Maximum-Likelihood-Methode. Zudem werden aus ihr weitere Funktionen wie die Log-Likelihood-Funktion und die Score-Funktion abgeleitet, die beispielsweise als Hilfsfunktionen bei der Maximum-Likelihood-Methode oder zur Konstruktion von Optimalitätskriterien in der Schätztheorie verwendet werden.
Das Konzept stammt aus den 1920er Jahren von Ronald Aylmer Fisher,[2][3] der glaubte, es sei ein in sich geschlossenes Rahmenwerk für statistische Modellierung und Inferenz. Später führten George Alfred Barnard und Allan Birnbaum eine wissenschaftliche Schule an, die das Plausibilitätsprinzip vertrat, das postulierte, dass alle relevanten Informationen für die statistische Inferenz in der Likelihood-Funktion enthalten sind.
Gegeben sei eine Wahrscheinlichkeitsdichtefunktion oder eine Zähldichte
welche noch zusätzlich von einem oder mehreren Parametern aus einer Parametermenge abhängt. Es ist also . Dann heißt die Funktion
die durch
definiert wird, die Likelihood-Funktion.[4][5] Die Dichtefunktion wird somit zur Likelihood-Funktion, indem man den Parameter als Variable auffasst und die Variable als Parameter behandelt. Wird ein konkretes fixiert, so nennt man auch die Likelihood-Funktion zum Beobachtungswert .[1] Im Falle einer Zähldichte gibt somit die Wahrscheinlichkeit von bei gegebenem Parameter an.
Betrachtet man unabhängig und identisch normalverteilte Zufallsvariablen mit unbekanntem Erwartungswert und unbekannter Varianz , so besitzt aufgrund der Unabhängigkeitsannahme die Wahrscheinlichkeitsdichtefunktion
Somit ist der Parameter gegeben als und stammt aus der Parametermenge . Folglich ist die Likelihood-Funktion
sie stimmt also mit der Dichtefunktion überein, mit dem Unterschied, dass und die Variablen sind und als Parameter behandelt wird. Für korrelierte Zufallsvariablen erhält man die Likelihood-Funktion nicht als einfaches Produkt und sie muss anders als oben dargestellt berechnet werden[6].
Setzt man und , so ist die Likelihood-Funktion unter Annahme von Unabhängigkeit zum Beobachtungswert
Ist eine zum Parameter binomialverteilte Zufallsvariable bei fixiertem , also
so besitzt sie die Zähldichte
für . Folglich ist die Likelihood-Funktion von der Form
mit und . Die Likelihood-Funktion zum Beobachtungswert ist dann gegeben durch
Hauptverwendung findet die Likelihood-Funktion bei der Maximum-Likelihood-Methode, einer intuitiv gut zugänglichen Schätzmethode zur Schätzung eines unbekannten Parameters . Dabei geht man bei einem Beobachtungsergebnis davon aus, dass dieses ein „typisches“ Beobachtungsergebnis ist in dem Sinne, dass es sehr wahrscheinlich ist, solch ein Ergebnis zu erhalten. Die Wahrscheinlichkeit dafür, zu erhalten hängt von der Wahrscheinlichkeitsdichtefunktion und damit auch von ab. Daher gibt man als Schätzung für den unbekannten Parameter denjenigen Parameter an, für den die Wahrscheinlichkeit des Eintretens von maximal ist. Dafür betrachtet man die Likelihood-Funktion zum Beobachtungswert und sucht ein , so dass
Dies entspricht der Bestimmung einer Maximalstelle der Likelihood-Funktion, welche meist durch Nullsetzen der Ableitung bestimmt wird:
Ist diese Gleichung schwer zu lösen, bietet sich die Log-Likelihood-Funktion als Hilfsmittel an.
Die Log-Likelihood-Funktion (auch logarithmische Plausibilitätsfunktion genannt[7]) ist definiert als der (natürliche) Logarithmus aus der Likelihood-Funktion,[5] also (beachte Kalligrafie in der Formel)
Teils wird die Log-Likelihood-Funktion auch mit oder bezeichnet.[8]
Aufbauend auf den obigen beiden Beispielen für die Likelihood-Funktion gilt im Falle der unabhängig und identisch normalverteilten Zufallsvariablen für die Log-Likelihood-Funktion
Im Falle der Binomialverteilung gilt für die Log-Likelihood-Funktion
Beides folgt aus den Rechenregeln für den Logarithmus (siehe Logarithmengesetze).
Da der Logarithmus eine streng monoton wachsende Funktion ist, ist jedes Minimum der Log-Likelihood-Funktion auch ein Minimum der Likelihood-Funktion. Ebenso ist jedes Maximum der Log-Likelihood-Funktion auch ein Maximum der Likelihood-Funktion.
Außerdem ist die Log-Likelihood-Funktion bei unabhängig und identisch verteilten Zufallsvariablen additiv. Das bedeutet, dass wenn unabhängig und identisch verteilte Zufallsvariablen mit Dichte und Log-Likelihood-Funktion sind, so besitzt die Log-Likelihood-Funktion
Dies folgt direkt aus der Tatsache, dass die Dichten von als Produkt gebildet werden, und den Rechenregeln des Logarithmus.
Da die Log-Likelihood-Funktion dieselben Maximalstellen besitzt wie die Likelihood-Funktion, ist sie ein gängiges Hilfsmittel zur Lösung der Gleichung
welche bei der Maximum-Likelihood-Methode anfällt. Anstelle dieser Gleichung wird dann die Gleichung
gelöst. Insbesondere die Additivität der Log-Likelihood-Funktion bei unabhängig und identisch verteilten Zufallsvariablen erleichtert das Lösen der Gleichung in vielen Fällen.
In einparametrigen Modellen definiert man die Score-Funktion als erste Ableitung der Log-Likelihood-Funktion[9]
Sie ist also die logarithmische Ableitung der Likelihood-Funktion. Die Score-Funktion gibt die Steigung der Log-Likelihood-Funktion an der jeweiligen Stelle an und muss nicht immer existieren. Sie taucht ebenfalls bei der Fisher-Information auf.
Für die Binomialverteilung wurde oben bereits gezeigt, dass die Likelihood-Funktion von der Form
ist. Daher ist
Leitet man diese Funktion nach ab, so fällt der erste Term als Konstante weg und mit den Ableiteregeln für den Logarithmus (siehe Ableitung und Integral) folgt
für die Score-Funktion.
Die Score-Funktion ist asymptotisch normalverteilt mit Erwartungswert Null und Varianz als Erwartungswert der Fisher-Information (auch Erwartete Fisher-Information genannt):[10]
Für die Lösung des Maximum-Likelihood-Problems ist nur das Auffinden des Maximums der Likelihood-Funktion von Belang. Dies ist einer der Gründe, warum die Maximum-Likelihood-Methode oft auch funktioniert, obwohl die Voraussetzungen nicht erfüllt sind. In den folgenden Fällen spricht man von einer Pseudo-Likelihood-Funktion:
Den Kern der Likelihood-Funktion (Kern der Plausibilitätsfunktion) erhält man aus der Likelihood-Funktion, indem man alle multiplikativen Konstanten vernachlässigt. Für gewöhnlich wird mit sowohl die Likelihood-Funktion als auch deren Kern bezeichnet. Die Verwendung der Log-Likelihood-Funktion ist häufig numerisch sinnvoll. Multiplikative Konstanten in wandeln sich dann in additive Konstanten in , die wiederum häufig ignoriert werden können. Eine Log-Likelihood-Funktion ohne additive Konstanten wird Kern der Log-Likelihood-Funktion genannt. Auch hier wird gewöhnlich mit sowohl die Log-Likelihood-Funktion als auch deren Kern bezeichnet.[11] Beispielsweise wäre der Kern der Log-Likelihood-Funktion einer Normalverteilung mit unbekanntem Erwartungswert und bekannter Varianz :[12]