Die Theorie der Geschichte, Geschichtstheorie oder Historik (von lateinisch ars historica „Historische Kunst[lehre]“; englisch historiology) erläutert und begründet die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Sie ist von der quellenbasierten Geschichtsforschung, der Geschichtsdidaktik und der Geschichtsphilosophie zu unterscheiden. Nicht gemeint sind hier insbesondere geschichtsphilosophische („materiale“) Theorien über den Gang oder Sinn der ganzen Geschichte (von Augustinus von Hippo, Karl Marx bis zu Francis Fukuyama), die auch oft als Geschichtstheorien bezeichnet werden.

Johann Gustav Droysen hat im 19. Jahrhundert die grundlegende Geschichtstheorie im deutschen Sprachraum verfasst. Er schrieb in seinem Grundriss der Historik (1857):

„Das Gegebene für die historische Forschung sind nicht die Vergangenheiten, denn diese sind vergangen, sondern das von ihnen in dem Jetzt und Hier noch Unvergangene, mögen es Erinnerungen von dem, was war und geschah, oder Überreste des Gewesenen und Geschehenen sein.“

Geschichte ist demnach nicht einfach die Vergangenheit, sondern einerseits das in der Vergangenheit Geschehene selbst (lateinisch res gestae), andererseits das Schreiben oder Erzählen über das Geschehene (lateinisch historia rerum gestarum).

Die Geschichtstheorie untersucht die allgemeinen „formalen“ Bedingungen der Erkenntnis von Vergangenem. Konkret sind es Fragen nach der Systematik der wissenschaftlichen Methodenlehre (Methodik und Quellenkunde), Hermeneutik und Heuristik, nach der Eigenart des historischen Denkens oder einer historischen Erklärung, nach den Interessen des Forschers im Prozess oder nach der gesellschaftlichen Bedeutung der historischen Wissenschaften.[1]

Entwicklung

Die Theorie der Geschichte begann in der antiken Literatur als rhetorisch-didaktische Lehre der Geschichtsschreibung, zum Beispiel bei Plutarch. Im Mittelalter musste sich eine Geschichte der weltlichen Dinge gegenüber der aus christlicher Sicht würdigeren Heiligenvita rechtfertigen, so bei Einhard in Auseinandersetzung mit Sulpicius Severus. Die theoretische Diskussion schritt durch die Aufklärung und den Historismus fort zur Methodenlehre der Geschichtsforschung und zur Erkenntnistheorie des historischen Denkens. Sie integrierte auch Teile der Geschichtsphilosophie.

Bereits Wilhelm Wachsmuth publizierte 1820 einen theoretischen Entwurf, das grundlegende Werk des deutschen Historismus aber ist Johann Gustav Droysens Historik (1857).

Friedrich Nietzsches Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874) hat in seiner Kritik einer zu stark historisierenden Weltsicht, die er dem zeitgenössischen Historismus vorwarf („Götzendienst des Tatsächlichen“), die zentrale Frage nach den Lebensleistungen der Wissenschaft gestellt. Erst die kritische Sicht der Geschichte erlaubt es, die Last der erinnerten Geschichte immer wieder abzuschütteln. Für ihn steht die Geschichte nahe zur Kunst. In der Gegenwart stehen dieser Position Diskurstheorien wie etwa von Michel Foucault oder Paul Veyne nahe. Viele Historiker wehren sich aber gegen eine Auflösung der Vergangenheit in eine bloße subjektive Konstruktion, darunter Eric Hobsbawm. Die Relevanz von Geschichte ergibt sich aus der für den Menschen unausweichlichen Gegenwärtigkeit des Vergangenen.

Für die deutsche Entwicklung nach 1945 führte die staatliche Teilung zur Kontroverse zwischen marxistischer und sogenannter „bürgerlicher“ Geschichtsschreibung in Ost und West. Dabei standen die Gesetzmäßigkeit der Geschichte und die Parteilichkeit des Historikers im Mittelpunkt. Eine Übersicht gibt dazu Karl-Georg Faber. Innerhalb der bundesdeutschen Debatte vertrat die Bielefelder Schule die Theoriebedürftigkeit von empirischer Geschichtsforschung gegen Theorieskeptiker wie zum Beispiel Konrad Repgen. Auch plädierte sie für eine aufklärerische Rolle von Geschichte gegen historische Mythen und für das Offenlegen der eigenen Voraussetzungen bzw. gegen ihre stillschweigende Setzung, wie den Primat der Außenpolitik. In den 1970er und 1980er Jahren befasste sich ein Arbeitskreis mit geschichtstheoretischen Fragen, in dem neben Jürgen Kocka vor allem Thomas Nipperdey und Reinhart Koselleck hervortraten (siehe Literatur). In den 1980er Jahren entwickelte Jörn Rüsen in mehreren Bänden eine neue geschichtstheoretische Grundlegung über Droysen hinaus, die auch in der Geschichtsdidaktik aufgegriffen wurde. Für ihn ist Geschichte „Sinnbildung über Zeiterfahrung“. Er setzt den deutschen Begriff Historik mit dem englischen Wort Metahistory gleich und versteht darunter die spezifische Selbstreflexion der Geschichtswissenschaften.

International wurde das Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft durch die Arbeiten von Hayden White herausgefordert („linguistic turn“), der die Narrativität als Form jeder Geschichtsschreibung klärte.

Heute gehören die postmodernen Debatten um die Mentalitätsgeschichte, die Gedächtnistheorie und ihre Folgen für die Oral History, (zum Beispiel bei Harald Welzer), und die Diskurstheorien in ihren Konsequenzen für die Geschichtswissenschaft oder neuerdings die Ikonische Wende mit der explosiven Vermehrung des Quellenmaterials sowie die Neue Kulturgeschichte zu den „heißen“ Themen.

Theoretische Legitimation

Alfred Heuß beklagte 1959 den Verlust der Geschichte als Bildungsmacht im Nachkriegsdeutschland. Ein Hinweis auf private Liebhaberei reiche nicht aus, etwa zur Begründung eines Schulfaches Geschichte. Kann man aus der Geschichte etwas lernen (historia magistra vitae)?

Jürgen Kocka, Vertreter der Bielefelder Schule, fasste die sozialen Funktionen der Geschichte 1975 folgendermaßen zusammen:

Bedingungsfaktoren historischer Erkenntnis

Jörn Rüsen (1983–1989) hat fünf Faktoren, die historische Erkenntnis bedingen, in einer disziplinären Matrix zusammengefasst:

Problemkreise

Zentrale Probleme der Geschichtstheorie sind nach Karl-Georg Faber (1971):

Im Grenzbereich zur Philosophie auch

Literatur

Zeitschriften

Klassiker und Literatur bis 1990

Einführungen und jüngere Schriften

Einzelbelege

  1. Stefan Haas: Was ist Geschichte? In: geschichtstheorie.de. Abgerufen am 23. April 2023.