Katholischer Anti-Gender-Protest während des „Equality March“ 2018 in Rzeszów

Die Anti-Gender-Bewegungen richten sich gegen die von ihnen so bezeichnete „Gender-Ideologie“, welche die „natürliche Ordnung der Gesellschaft“ gefährde.[1][2] In Europa mobilisieren verschiedene Akteure aus dem konservativen, rechten und religiös-fundamentalistischen Spektrum gegen dieses Feindbild von Gleichstellungspolitik (Gender-Mainstreaming), LGBT-Rechten und Gender Studies.[3][4][5] In den Bewegungen werden die traditionelle Kernfamilie sowie als naturhaft verstandene binäre Geschlechtervorstellungen und Heterosexualität als Leitbild bzw. Norm angesehen.[1][2] Für das Phänomen wurden auch die Bezeichnungen Anti-Genderismus und War against Gender geprägt.[1]

Inhalte und Stil

Die Anti-Gender-Bewegungen mobilisieren gegen ein als „Gender-Ideologie“ bezeichnetes Feindbild, das sich gegen Gleichstellungspolitik (Gender-Mainstreaming), LGBT-Rechte, Gender Studies und deren Befürworter richtet. Durch die Bezeichnung „Gender-Ideologie“ werden diese Anliegen als grundsätzlich illegitim dargestellt und Befürworter dieser Anliegen werden etwa als „Lobbyisten“ abgewertet.[5][6] Auch die Schlagworte „Genderismus“, „Gender-Gaga“, „Gender-Wahnsinn“ oder „Gender-Terror“ sind hierfür gebräuchlich.[7] Diese „Gender-Ideologie“, so die Vorstellung, wolle den Menschen Geschlechterrollen wahlweise aufdrängen oder ihnen aberziehen, wolle das Geschlecht „abschaffen“, nehme eine „unendliche Zahl an Geschlechtern“[8] an oder negiere die Existenz des biologischen Geschlechts,[9] und verstoße damit gegen die „natürlichen Fundamente“ der Gesellschaft.[2] Diese Vorstellungen beruhen auf dem teilweise missverstandenen Konzept des sozialen Geschlechts („Gender“) oder auf einer verzerrten Darstellung der Frauen- und Geschlechterforschung.[6] Judith Butler betont: „die Geschlechterforschung negiert das biologische Geschlecht nicht, sondern fragt, durch welchen medizinischen und rechtlichen Rahmen es festgelegt wird.“[9]

Plakatierung in Warschau, 2014, das den Suizid zweier Kinder als Folge der „Gender-Ideologie“ darstellt.

Im Unterschied zu früheren antifeministischen Bewegungen werden gleiche Rechte für Frauen und Männern nicht abgelehnt, Männer und Frauen werden aber dennoch als von Natur aus grundsätzlich verschieden angesehen. Manche Akteure mobilisieren daher anstatt gegen den Feminismus als solchen gegen eine „geschlechtsindifferente Gleichmacherei“, die etwa die „bewährten Beziehungsmodelle – allen voran die traditionelle Familie“ „zerstören“ würde.[10] In dieser Hinsicht thematisieren die Anti-Gender-Diskurse auch die niedrigen Geburtenraten und machen Abtreibungen und dem „Feminismus verfallene“ Frauen dafür verantwortlich, die die Karriere der Familiengründung vorziehen würden. Es wird das Bild einer „entvölkerten zukünftigen Welt“ gezeichnet, die dominiert sei von „Einsamkeit und Entfremdung infolge des drohenden Sieges der ‚Gender-Ideologie‘.“ Der „Genderismus“ wird mit Einsamkeit und Unglücklichsein verknüpft.[11] Des Weiteren wird vor einer „Frühsexualisierung[6] (Sexualpädagogik in Kindergärten und Schulen) oder einer „Propagierung von Homosexualität[1] gewarnt, die das Kindeswohl gefährden würden und womit insbesondere Eltern mobilisiert werden sollen.[5]

Rechtspopulistische Akteure inszenieren sich dabei oft als „Stimme des ‚gemeinen‘ Volkes“ und bauen in dieser Hinsicht einen Elite-Volk-Gegensatz auf.[12] Wiederkehrend ist zudem die Auffassung, „fremde Kräfte“ wie die EU, UN oder WHO wollten mit dieser „Gender-Ideologie“ die eigenen Länder und Traditionen schwächen.[5]

Ursprung

Der Ursprung des negativ konnotierten Begriffs der „Gender-Ideologie“ wird im Vatikan gesehen. Als es durch die Weltbevölkerungskonferenz 1994 und die Weltfrauenkonferenz 1995 zu einer Anerkennung sexueller und reproduktiver Rechte durch die UN kam, erarbeitete der Vatikan eine Gegenstrategie, da er eine Schwächung der traditionellen Familie sowie die generelle Anerkennung von Abtreibung und Homosexualität befürchtete. Auf diesen Konferenzen wurde unter anderem der zu dieser Zeit noch neue Begriff des sozialen Geschlechts („Gender“) vorgebracht. Dies sah der Vatikan jedoch als strategisches Mittel zur Schwächung der traditionellen Familie und wandte sich deshalb gegen den Begriff „Gender“. Dem wurde die grundsätzliche Verschiedenartigkeit und „Komplementarität“ beider Geschlechter gegenübergestellt, eine Vorstellung, die innerhalb des Vatikan zuvor bereits von Johannes Paul II. geprägt wurde.[13]

Anti-Gender-Bewegung als Backlash

Die Anti-Gender-Bewegungen werden oftmals als ein konservativer Backlash zu bisherigen Gleichstellungsbemühungen und zu einer Ausweitung der LGBT-Rechte aufgefasst.[5] So deutet die Heinrich-Böll-Stiftung die Anti-Gender-Bewegung als eine Reaktion auf „erkämpfte Rechte und Praktiken offener demokratischer Gesellschaften, etwa im Bereich der sexuellen und reproduktiven Selbstbestimmung“; es würde „auf deren Abbau hingearbeitet.“[14]

Andererseits wird argumentiert, dass die Anti-Gender-Bewegungen nicht als reiner Backlash (also eine Reaktion auf „bereits Erreichtes“) gesehen werden können und nicht alle Anhänger per se antifeministisch oder homophob seien. Da diese scheinbar gleichzeitig und vernetzt in Europa und besonders stark in osteuropäischen Ländern auftreten, obwohl gerade dort die Gleichstellungsbemühungen und LGBT-Rechte noch deutlich schwächer ausgeprägt sind, müssten andere Erklärungen wie die sozioökonomischen und politischen Umstände mit einbezogen werden.[5][15][16] Teilweise finden sich laut der Politikwissenschaftlerinnen Eszter Kováts auch Bezüge zu einzelnen, umstrittenen Strömungen des Feminismus und LGBTQ-Aktivismus, welche das Geschlecht bloß als eine individuelle Identität darstellen, sich immer weiter fragmentieren („individualisierte“ Intersektionalität, Identitätspolitik) und fälschlicherweise einzelne Individuen für strukturelle Unterdrückungssysteme verantwortlich machen würden. Diese vor allem aus dem angloamerikanischen Raum stammenden Strömungen seien durch die Individualisierungslogik der ökonomischen Verhältnisse geprägt worden und hätten den Feminismus und LGBTQ-Aktivismus deutlich anfälliger für diese Art von Gegenreaktion gemacht; der „Backlash“ richte sich teilweise gegen diese aufkommenden Strömungen.[8]

Sozioökonomisch-kultureller Kontext

Die Entstehung und der Erfolg dieser Bewegungen, die den Term „Gender“ als Feindbild betrachten, werden vielfach als Symptome einer tiefer zugrunde liegenden sozioökonomischen, politischen und kulturellen Krise der liberalen Demokratie aufgefasst.[5][9][17] Unter anderem werden diese als eine Reaktion auf den Neoliberalismus begriffen, das heißt eine Politik der Deregulierung, Prekarisierung von Arbeit und des Abbaus wohlfahrtsstaatlicher Sicherungen sowie auf die aus der Finanzkrise 2007 entstandenen Wohlfahrtsverluste und der Öffnung der Schere zwischen Arm und Reich.[6] Den Zusammenhang erklärt die Soziologin Katharina Scherke auch damit, dass die Arbeitswelt – unter anderem durch die Prekarisierung – keine positiven Identitätsbezüge mehr stifte und die Menschen sich daher auf kulturelle Identitätsmerkmale wie das Geschlecht fokussierten. Die Auflösung der traditionellen Geschlechterrollen habe deshalb gerade auch bei denjenigen, die Statusverluste erleiden bzw. befürchten müssten, zu einem „kulturellen Backlash“ geführt.[18]

In der Zeitschrift Luxemburg analysierten die Soziologin Weronika Grzebalska und die Politikwissenschaftlerinnen Eszter Kováts und Andrea Pető die „Gender-Ideologie“ als Metapher für die Unsicherheit und Unfairness, die durch die sozioökonomischen Umstände produziert worden seien. Illiberale Populisten hätten es geschafft, an die Gefühle der Menschen anzuknüpfen und diese gegen Gleichstellungsfragen zu lenken. Opposition gegenüber der „Gender-Ideologie“ bedeute auch die Ablehnung der Priorisierung der Identitätspolitik gegenüber materiellen Fragen und damit Kritik am Verlust sozialer, politischer und kultureller Sicherheit. Die Autoren fordern daher, dass die progressive Agenda stärker um die Bekämpfung ökonomischer Ungleichheiten, der Prekarisierung von Arbeit und der Privatisierung der Daseinsvorsorge erweitern werden müsse.[3]

Agnieszka Graff, eine feministische Aktivistin, und Elżbieta Korolczuk interpretieren die Anti-Gender-Rhetorik als „reaktionäre Kritik am Neoliberalismus“. Der Anti-Genderismus gebe denjenigen Ängsten eine Stimme, die aus den zunehmend prekären Arbeits- und Lebensbedingungen resultierten. Anstatt das Problem jedoch in sozioökonomischen Begriffen wie Ungerechtigkeit und Ausbeutung zu benennen, würde die Kritik moralisiert und die Gewinner des Kapitalismus würden als degeneriert und moralisch korrupt dargestellt. Die Anti-Gender-Diskurse bezögen sich aber nicht nur auf die ökonomischen, sondern auch auf die soziokulturellen Folgen des neoliberalen Paradigmas, welches gesellschaftlich zu einer Individualisierung führte, die Eigenverantwortung in den Vordergrund stellte und die Kommodifizierung vieler Lebensbereiche beinhaltete. Die Anti-Gender-Bewegung stelle dem „Gemeinschaft, Solidarität und familiäre Werte“ gegenüber. In der proklamierten „Auflösung“ bzw. „Krise der Familie“ fänden sich zudem die Auswirkungen des Kapitalismus auf die soziale Reproduktion und Entwertung der Sorgearbeit wieder.[17]

Auch die Politikwissenschaftlerin Birgit Sauer ergänzt hinsichtlich der „ökonomischen Verunsicherungsthese“, dass diese nicht als alleinige Erklärung hinreichend sei. Zusätzlich müssten die sich seit den 1970er-Jahren verändernden Geschlechterverhältnisse in Betracht gezogen werden. Einerseits habe die Transformation der Rolle des männlichen „Familienernährers“ in vielen Ländern zur Fragilität des männlichen Rollenbildes geführt und die Entwicklung einer männlichen Identitätspolitik gefördert. Andererseits führte – beschleunigt durch den Neoliberalismus – die zunehmende Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt zu prekären Arbeitsbedingungen und verschärfte ein „Grundproblem kapitalistischer Gesellschaften“, die Externalisierung der Sorgearbeit insbesondere auf ärmere und migrierte Frauen.[6]

Laut Judith Butler resultierte der Abbau sozialer Sicherungen durch den Neoliberalismus zu einem Festhalten an der traditionellen Familie als Ort zur Übernahme der Sorgearbeit sowie zu einem Erstarken patriarchaler Werte. Vor diesem Hintergrund, bei dem die traditionelle Familie angesichts der sozioökonomischen Umstände als unabdingbar angesehen werde, habe sich eine Angst vor der Destabilisierung dieser durch die „Gender-Ideologie“ ausgebreitet.[9]

Akteure und Finanzierung

Der Antigenderismus wird hauptsächlich aus drei Strömungen heraus betrieben: Dem christlichen Fundamentalismus, der Männerrechtsbewegung (bzw. der sich virtuell organisierten Manosphere) und von rechtspopulistischen bzw. rechtsextremen Strömungen.[19] Daneben werden auch manche Konservative aus dem Mainstream, orthodoxe Juden, fundamentale Muslime, und in einigen Ländern Hooligans zu den Akteuren gezählt.[3] Die Akteure haben jeweils unterschiedliche weltanschauliche Verhaftungen, vereinen sich aber in ihrer Ablehnung der „Gender-Ideologie“. Der Term „Gender“ wird dementsprechend als „symbolischer Klebstoff“ (englisch symbolic glue) der Anti-Gender-Bewegung gesehen, der sie mit anderen konservativen Bewegungen vereint.[19][5][3]

Einem Bericht des Europäischen Parlamentarischen Forums für sexuelle & reproduktive Rechte zufolge flossen im Zeitraum von 2009 bis 2018 mehr als 700 Millionen US-Dollar in insgesamt 54 Organisationen für Anti-Gender-Kampagnen in Europa. Die Gelder dafür stammen neben privaten Stiftungen aus Europa auch aus Russland und den USA. Aus Russland, von wo etwa 188 Mio. USD stammen, konnten Organisationen, die mit den Oligarchen Vladimir Yakunin und Konstantin Malofeev in Verbindung stehen, als Geldgeber identifiziert werden. Aus den USA flossen etwa 81 Mio. USD von konservativen bzw. rechts-religiösen Organisationen, darunter dem Cato Institute, der Heritage Foundation und der ADF International, in dessen europäischen Büros Sophia Kuby eine führende Rolle einnimmt. Unterstützt werden diese teils von Milliardären mit Verbindungen zur Republikanischen Partei und den Alt-Rights und anderen extremen Rechten, wie etwa von Charles Koch, dessen Ziel es ist, ein „libertäres Paradies [zu schaffen], ohne Steuern und Vorschriften, in dem die reichsten Oligarchen, darunter er selbst, die Umwelt zerstören, Arbeiter*innen ausbeuten und exorbitante Gewinne erzielen können“.[20][21] Generell haben wirtschaftsliberale bzw. neokonservative Kräfte aus den USA häufig das Ziel, die traditionelle Kernfamilie als Alternative zum Wohlfahrtsstaat zu stärken, um damit Kürzungen der Budgets für Gesundheit, Bildung und Soziales zu legitimiert. Trotz dieser Verbindungen in die USA sehen Graff und Elżbieta im internationalen Anti-Genderismus jedoch nicht bloß eine „Verlängerung der [amerikanischen] neokonservativen Agenda“, sondern verweisen darauf, dass von Ultrakonservativen in Europa oftmals auch eine Art „chauvinistischer Wohlfahrtsstaat“ gefordert werde, der gezielt traditionelle Familien im eigenen Land mit staatlichen Leistungen fördern solle.[17]

Beispiele aus einzelnen Ländern

Deutschland

Demonstranten der „Demo für Alle“ vor einer Kunstaktion der Oper Stuttgart für (sexuelle) Vielfalt

In Deutschland wurde ab 2006 kritisch über Gender-Mainstreaming diskutiert, als Eva Herman in ihrem Buch Das Eva-Prinzip den Feminismus für ein „Aussterben der Deutschen“[22] verantwortlich machte und mit Talkshowauftritten für Kontroversen sorgte, sowie in konservativen Medien wie der FAZ über eine „politische Geschlechtsumwandlung“ debattiert wurde. Rechtsextreme Akteure nutzten dies als Auftakt für eine gezielte Kampagne gegen Gender-Mainstreaming. Im Jahre 2013 etwa mobilisieren Neonazis aus dem norddeutschen Raum mit einem Aufruf gegen das Feindbild des „Genderwahns“, das sie als „Waffe“ gegen „das deutsche Volk“ bezeichneten.[23] Darüber hinaus mobilisiert seit 2013 das fundamentalchristliche Demonstrationsbündnis „Demo für Alle“, in Anlehnung an das französische „La Manif pour tous“, gegen die gleichgeschlechtliche Ehe und Gender-Mainstreaming.[24] In diesen zeitlichen Kontext fällt eine verschärfte Leistungsrhetorik und zunehmende Abstiegsängste der Mittelschicht durch die Einführung von Hartz-IV, was als relevanter Faktor hinsichtlich der Verschärfung Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit gesehen wird.[22]

Frankreich

Demonstration am 26. Mai 2013 in Paris

In Frankreich erfuhren die Proteste gegen die gleichgeschlechtliche Ehe und damit verbunden das Adoptionsrecht 2012 und 2013 die meiste Beachtung, waren aber letztlich nicht erfolgreich. Andere Vorhaben wie etwa Zugang lesbischer Paare zur künstlichen Befruchtung, Gleichstellung der Geschlechter an Schulen zu unterrichten und bürokratische und medizinische Erleichterungen für Transgender wurden jedoch durch diese Bewegungen aufgehalten oder verzögert. Die „La Manif pour tous“ vereinte dabei verschiedene ehemals zersplitterte konservative Gruppierungen.[25]

Die Anti-Gender-Bewegung wurde zu einer anhaltenden Kraft in der politischen Diskussion in Frankreich und inspirierte ähnliche Bewegungen in Ländern wie Italien. Die Rhetorik der Protestbewegung ähnelt dabei mitunter der, die auch sozialistische und progressive Bewegungen verwenden, beispielsweise der Slogan « On ne lâche rien » (auf Deutsch etwa „wir geben nicht auf!“). Und anstatt etwa homophober Argumentationsmuster verwendeten die Akteure Argumente, die bei einer breiteren Masse Anklang fanden, wie die Darstellung von Kindern nicht-heterosexueller Paare als „unsichtbaren Opfern“ der Reformen.[25]

Eine wichtige Rolle spielt dabei auch die katholische Kirche, welche ab Ende des 20. Jahrhunderts stärker einen „Identitäts-basierten“ Aktivismus verfolgte, nachdem sich viele Kirchen-Angehörige noch in den 1970er und 1980ern gegen Ungleichheit in der Arbeitswelt oder für bessere Arbeitnehmerrechte engagierten. Die konservativen Kräfte in der Kirche nahmen in den darauf folgenden Jahrzehnten einen stärkeren Raum ein und dominierten im öffentlichen Diskurs seitens der Kirche, auch deshalb, weil eine Opposition beispielsweise gegen die gleichgeschlechtliche Ehe in der Bevölkerung großen Anklang fand. Die Soziologen Michael Stambolis-Ruhstorfer und Josselin Tricou aus Frankreich vermuten, dass viele ehemalige progressive Akteure in der Kirche, die teilweise ursprünglich offen für die gleichgeschlechtliche Ehe waren, sich mit den konservativen Akteuren für traditionelle Familiennormen verbündeten, da sie sich davon einen besseren Stand für die Durchsetzung ihrer ökonomisch progressiven Agenda erhofften.[25]

Polen

Sticker mit Aufschrift „LGBT-freie Zone“ aus Polen.

In Polen warnen politische Parteien und die katholische Kirche vor einer „Gender-Ideologie“, darunter auch die nationalistische PiS-Partei, die seit 2015 an der Macht ist. Feminismus, liberale Abtreibungsgesetze und LGBT-Rechte, die von Außerhalb (insbesondere durch die EU) aufgezwungen wären, werden als Bedrohung für die nationale Identität dargestellt.[26] 30 % der polnischen Katholiken glaubten 2017, es gäbe eine „Gender-Verschwörung“, die christliche Traditionen durch eine Übernahme der öffentlichen Medien zerstören wolle. Symbolisch riefen mehrere lokale Regierungen eine „LGBT-ideologiefreie Zone“ aus.[27]

Durch die konservativen Eliten und die katholische Kirche wurde die nationale Identität zum vorherrschenden Element im öffentlichen Diskurs und löste das vormalig bis in die 1990er Jahre vorhandene Klassenbewusstsein ab. Frustration über sozioökonomische Veränderungen (wie Privatisierung und Schwächung der Arbeitnehmerrechte) richtete sich so aufgrund des fehlenden Klassenbewusstseins gegen unter anderem Liberale, Ungläubige und Fremde, anstatt gegen den Kapitalismus und die neoliberale Transformation. Der Diskurs um die Verteidigung der nationalen Identität fungierte als „Blitzableiter“ sozialer Spannungen und schützte so die neuen Eliten und das neoliberale System, das seit 1989 in Polen aufgebaut wurde.[26]

Italien

Der Politikwissenschaftler Luca Ozzano und die Soziologin Alberta Giorgi stellen die Anti-Gender-Bewegung in Italien in den größeren Kontext des Widerstands der religiösen Rechten mit ihrem manichäischen Weltbild gegen die Säkularisierung. Ein Hauptziel der Anti-Gender-Bewegung in Italien sei die Verhinderung gleichgeschlechtlicher Ehen. Allerdings würden die beiden großen Lager eine Dynamik entfalten, die auf eine weitere Polarisierung hinauslaufe. Diese werde auch durch die EU-Politik unterstützt, während populistische Gruppierungen wie die Forza Italia um Berlusconi oder die Lega Nord eher taktische Positionen in diesem Streit einnehmen, weil für sie die Gender-Frage nicht zentral sei.[28]

Ungarn

Anders als in anderen europäischen Ländern geht die Anti-Gender-Mobilisierung in Ungarn vor allem von der Regierung oder regierungsnahen NGOs aus. Für Viktor Orbán dient eine „Gender-Ideologie“ ab 2017 als Feindbild, um sich als Beschützer traditioneller Werte und vor fremden Einflüssen darzustellen.[8] Den Anti-Gender-Diskursen folgen 2018 Taten: Die Regierung entzog Gender-Studiengängen die Akkreditierung, da Gender-Studies das konservative Familienleitbild der Fidesz-Partei störten. Betroffen sind die größte staatliche Universität in Budapest, die Eötvös-Loránd-Universität (ELTE), sowie die private Central European University.[29] Ebenfalls diente das Feindbild der „Gender-Ideologie“ als Begründung dafür, die Istanbul-Konvention auch weiterhin nicht zu unterzeichnen. Die Argumentation richtete sich aber nicht gegen den Schutz vor häuslicher Gewalt – dem Hauptanliegen der Konvention. Stattdessen wurde unterstellt, die Konvention erhalte eine Definition von „Gender“, die biologische Geschlechtsmerkmale negiere und eine „unendliche Zahl an Geschlechtern“ annehme. Hierbei handelte es sich laut der Politikwissenschaftlerin Eszter Kováts um eine Fehlinterpretation der Istanbul-Konvention.[8]

Literatur

Einzelnachweise

  1. a b c d Die transnationale Anti-Gender-Bewegung in Europa | Gunda-Werner-Institut. Abgerufen am 19. Februar 2022.
  2. a b c Sabine Hark, Paula-Irene Villa: Eine Frage an und für unsere Zeit. In: Anti-Genderismus Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen. Bielefeld 2015, ISBN 978-3-8376-3144-9, S. 18.
  3. a b c d Weronika Grzebalska, Eszter Kováts und Andrea Pető: Gender as symbolic glue. How ‘gender’ became an umbrella term for the rejection of the (neo)liberal order. In: Zeitschrift LuXemburg. 26. September 2018, abgerufen am 10. Januar 2021.
  4. Regina Frey, Marc Gärtner, Manfred Köhnen, Sebastian Scheele: Einleitung zur zweiten Auflage. In: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Gender, Wissenschaftlichkeit und Ideologie. Argumente im Streit um Geschlechterverhältnisse. Unter Mitarbeit von Regina Frey, Marc Gärtner, Manfred Köhnen und Sebastian Scheele. 2., aktualisierte Auflage (= Schriften des Gunda-Werner-Instituts, 9). 2014, S. 9‒23.
  5. a b c d e f g h Eszter Kováts: The Emergence of Powerful Anti-Gender Movements in Europe and the Crisis of Liberal Democracy. In: Gender and Far Right Politics in Europe (= Gender and Politics). Springer International Publishing, Cham 2017, ISBN 978-3-319-43533-6, S. 175–189, doi:10.1007/978-3-319-43533-6_12.
  6. a b c d e Birgit Sauer: Anti-feministische Mobilisierung in Europa. Kampf um eine neue politische Hegemonie? In: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft. Band 13, Nr. 3, September 2019, ISSN 1865-2646, S. 339–352, doi:10.1007/s12286-019-00430-8.
  7. Anna-Katharina Höpflinger, Ann Jeffers, Daria Pezzoli-Olgiati: Handbuch Gender und Religion. UTB, 2021, ISBN 978-3-8252-5714-9, S. 68 (google.com [abgerufen am 17. Februar 2022]).
  8. a b c d Gabriele Dietze, Julia Roth: Right-Wing Populism and Gender: European Perspectives and Beyond. transcript Verlag, 2020, ISBN 978-3-8394-4980-6, S. 81–99 (google.de [abgerufen am 15. Juni 2021]).
  9. a b c d Judith Butler: Why is the idea of ‘gender’ provoking backlash the world over? In: The Guardian. 23. Oktober 2021, abgerufen am 7. Juni 2022 (englisch).
  10. Sabine Hark, Paula-Irene Villa: Eine Frage an und für unsere Zeit. In: Anti-Genderismus Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen. Bielefeld 2015, ISBN 978-3-8376-3144-9, S. 26.
  11. Agnieszka Graff, Elżbieta Korolczuk: Anti-Gender Politics in the Populist Moment. Routledge, London 2021, ISBN 978-1-00-313352-0, S. 12 ff., 130 ff., doi:10.4324/9781003133520.
  12. Sonja A. Strube: Anti-Genderismus in Europa. Allianzen von Rechtspopulismus und religiösem Fundamentalismus. Mobilisierung – Vernetzung – Transformation. transcript, Bielefeld 2020, ISBN 978-3-7328-5315-1, S. 28–29.
  13. Roman Kuhar, David Paternotte: Anti-Gender Campaigns in Europe: Mobilizing against Equality. Rowman & Littlefield, 2017, ISBN 978-1-78660-001-1, S. 9 f.
  14. Angriff auf die Demokratie? Anti-Gender-Bewegungen in Europa | Gunda-Werner-Institut. Abgerufen am 7. Juni 2022.
  15. Elżbieta Korolczuk: "The War on Gender" from a Transnational Perspective - Lessons for Feminist Strategising. Hrsg.: Heinrich-Böll-Stiftung. (boell.org [PDF]).
  16. Agnieszka Graff, Elżbieta Korolczuk: Anti-Gender Politics in the Populist Moment. 1. Auflage. Routledge, London 2021, ISBN 978-1-00-313352-0, S. 140, doi:10.4324/9781003133520.
  17. a b c Agnieszka Graff, Elżbieta Korolczuk: Anti-Gender Politics in the Populist Moment. 1. Auflage. Routledge, London 2021, ISBN 978-1-00-313352-0, S. 30–31, 118 ff., 167 ff., doi:10.4324/9781003133520.
  18. Katharina Scherke: Scham-Wut-Spiralen. In: Sonja A. Strube, Rita Perintfalvi, Raphaela Hemet, Miriam Metze und Cicek Sahbaz (Hrsg.): Anti-Genderismus in Europa: Allianzen von Rechtspopulismus und religiösem Fundamentalismus. Mobilisierung – Vernetzung – Transformation. transcript, 2021, ISBN 978-3-8394-5315-5, S. 271–281, doi:10.14361/9783839453155.
  19. a b Anna-Katharina Höpflinger, Ann Jeffers, Daria Pezzoli-Olgiati: Handbuch Gender und Religion. UTB, 2021, ISBN 978-3-8252-5714-9, S. 68–70 (google.de [abgerufen am 18. Februar 2022]).
  20. So finanzieren Oligarchen & Rechtsextreme frauenfeindliche Propaganda in Europa. In: NeueZeit.at. 14. März 2022, abgerufen am 5. April 2022 (deutsch).
  21. Tip of the Iceberg: Religious extremist – Funders against Human Rights for Sexuality & Reproductive Health in Europe. Abgerufen am 5. April 2022 (niederländisch).
  22. a b Maren Behrensen, Marianne Heimbach-Steins, Linda E. Hennig: Gender – Nation – Religion: Ein internationaler Vergleich von Akteursstrategien und Diskursverflechtungen. Campus Verlag, 2019, ISBN 978-3-593-50960-0, S. 27 (google.de [abgerufen am 20. Februar 2022]).
  23. Juliane Lang: „Gender“ und „Genderwahn“ – neue Feindbilder der extremen Rechten. In: bpb. Abgerufen am 11. Januar 2020.
  24. Vgl. hierzu etwa die Masterarbeit von Theresa Schlegel (Universität Potsdam, 2017): Deutungsmuster des Geschlechterverhältnisses im „anti-genderistischen“ Diskurs am Beispiel der Proteste („Demo für Alle“) gegen den Bildungsplan von Baden-Württemberg 2015 (online)
  25. a b c Michael Stambolis-Ruhstorfer, Josselin Tricou: Resisting “Gender Theory” in France: A Fulcrum for Religious Action in a Secular Society. In: Anti-Gender Campaigns in Europe: Mobilizing against Equality. Rowman & Littlefield Publishers, 2017, S. 304 (archives-ouvertes.fr [abgerufen am 19. Januar 2021]).
  26. a b Piotr Żuk, Paweł Żuk: ‘Murderers of the unborn’ and ‘sexual degenerates’: analysis of the ‘anti-gender’ discourse of the Catholic Church and the nationalist right in Poland. In: Critical Discourse Studies. Band 17, Nr. 5, 19. Oktober 2020, ISSN 1740-5904, S. 566–588, doi:10.1080/17405904.2019.1676808.
  27. Aleksandra Cichocka, Marta Marchlewska: How a gender conspiracy theory is spreading across the world. Abgerufen am 11. Januar 2021 (englisch).
  28. Luca Ozzano, Alberta Giorgi: European Culture Wars and the Italian Case: Which side are you on? Routledge, London (eBook) 2015. doi.org/10.4324/9781315669892
  29. Judith Langowski: Zwei Jahre nach dem Verbot: Wie geht es den Gender Studies in Ungarn? in tagesspiegel.de, 5. März 2021