Klassifikation nach ICD-10 | |
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R34 | Anurie |
N20.9 | Anurie durch Stein |
T37.0 | Anurie durch Überdosis von Sulfonamiden |
O08.4 | Anurie nach Abort, Extrauteringravidität oder Molenschwangerschaft |
N99.0 | Anurie nach medizinischen Maßnahmen |
T79.5 | traumatische Anurie |
ICD-10 online (WHO-Version 2019) |
Als Anurie bezeichnet man beim erwachsenen Menschen eine Harnproduktion (Alpha privativum, griechisch οὖρα oúra „Harn“) von weniger als 100 ml in 24 Stunden;[1][2] in der Kinderheilkunde sowie auch in der Tiermedizin gelten (je nach Alter, Größe und Spezies) andere Volumina beziehungsweise Harnflussraten (→ Uroflowmetrie).
Die Anurie ist eine Unterform der Oligurie; man spricht auch von der Oligoanurie und früher von „graduellen Übergängen“ zwischen Oligurie und Anurie.[3] Die Anurie ist damit das Gegenteil der Polyurie. Diuretika antagonisieren die Anurie.
Es wird die echte, durch eine Nierenschädigung bedingte, renale Anurie von einer prärenal bedingten sowie von einer – bei Verschluss der ableitenden Harnwege vorliegenden – falschen, postrenal bedingten, Anurie unterschieden.[4] Diese falsche Anurie heißt auch Harnsperre, Harnverhalt, Harnverhaltung[5] oder Ischurie (Ischuria[6]).
In völliger Verkennung der pathophysiologischen Zusammenhänge wurde noch 1963 in einem Lehrbuch über Notfälle in der inneren Medizin die Anurie (mit einer Dauer von bis zu zwölf Tagen) mit einer „akuten tubulären Nieren-Insuffizienz verschiedenartiger Ätiologie“ erklärt.[7] Die Anurie beruht meistens auf einer Überfunktion der Tubuli und nicht auf einer Unterfunktion der Glomeruli. Die Anurie war früher entweder vorübergehend oder letal. So erwähnte Albert Eulenburg 1885 einen achtjährigen Jungen mit einer 25-tägigen Anurie mit Heilung.[8]
Allgemein sprach man früher von einem Nierenblock,[9] von einer Harnverstopfung,[10] von einer Urinverhaltung,[11] vom Versiegen der Harnabsonderung, von einer mangelhaften Harnabsonderung, von einer „Verhinderung des Harnabflusses“, von einer aufgehobenen Harnsecretion, von einer „mangelnden Harnexcretion“ oder auch kurz von „Harnmangel“[12][13][14] oder „Nichtharnen“.[15] Die Duden-Redaktion hat „das Versagen der Harnausscheidung“[16] und die „fehlende Urinausscheidung“ korrigierend um das „Versagen der Harnproduktion“[17] ergänzt.
In der modernen Medizin werden die Begriffe Polyurie, Oligoanurie, Oligurie und Anurie kaum noch verwendet. Denn zur Bestimmung ist zwingend die „Messung der 24-Stunden-Menge (Urinuntersuchung am Krankenbett)“ erforderlich.[18] Dieses Urinsammelverfahren ist aufwändig und unpraktisch. Heute verlässt man sich bei der Bestimmung der Nierenfunktion auf die Glomeruläre Filtrationsrate.
Früher schrieb man: „Man erkennt die zwei Typen der Anurie: Diejenige, bei welcher wir eine erhaltene, aber verminderte Filtration annehmen und bei der das Filtrat im Tubulussystem vollständig resorbiert wird, und ferner die andere Form, bei welcher ein fast vollständiges Fehlen der Filtration unterstellt werden kann.“[19]
Voraussetzung für eine renal bedingte Anurie ist nicht etwa ein Rückgang der glomerulären Filtration auf null. Vielmehr wird die Anurie durch einen Anstieg der tubulären Rückresorption von durchschnittlich etwa 99 % um nur einen Prozentpunkt auf 100 % erreicht.[20] Die harnpflichtigen Stoffe (wie zum Beispiel Kreatinin oder auch Cystatin C) werden weiter produziert und können nicht mehr über die Nieren ausgeschieden werden; sie werden also zusammen mit dem Plasmawasser vollständig rückresorbiert.[21] Kreatininbasierte Schätzformeln für die GFR können also keine zuverlässigen Werte liefern. Irrtümlich würden mit solchen Formeln zu kleine glomeruläre Filtrationsraten berechnet werden; denn alle diese Formeln setzen voraus, dass Kreatinin nicht (oder nur geringfügig) tubulär resorbiert wird. Ebenso können die Clearance-Formeln bei einer Anurie wegen des fehlenden Urins nicht verwendet werden.
Der Anstieg der tubulären Rückresorptionsquote kann pathophysiologisch als beabsichtigte und notwendige Verhinderung eines weiteren Flüssigkeitsverlustes im Schock oder bei körperlicher Extrembelastung verstanden werden. Bis zum Beweis des Gegenteils ist jede Anurie also eine erforderliche Kompensation des Herz-Kreislauf-Systems. Im Schock kann die tatsächliche GFR sogar parallel zum HZV ansteigen. Im Kreislaufschock muss nach den kardiologischen Leitlinien das Herzzeitvolumen (HZV, englisch CO für den cardiac output) bestimmt werden; bei Nierengesunden beträgt die tatsächliche GFR etwa zwei Prozent des HZV.
Ansonsten kommen beim Verdacht auf eine schwere beiderseitige Nierenkrankheit bei einer Anurie in der Intensivmedizin nur nuklearmedizinische Bestimmungen der GFR in Frage; hier besteht allerdings die Gefahr eines zusätzlichen iatrogenen kontrastmittelinduzierten Nierenversagens. Aber bei einer Anurie bekommt man hierbei als Ergebnis auch nur das Filtrationsverhältnis der beiden einzelnen Nieren zueinander mit der Summe 100 % ohne Angabe der tatsächlichen GFR.
Die extrarenale Clearance einer jeden teilweise harnpflichtigen Substanz entspricht bei der Anurie der totalen Plasma-Clearance.[22]
In der Pädiatrie wird die Anurie mitunter als Verschlimmerung (Aggravation) der Niereninsuffizienz dargestellt. Veröffentlicht werden Dosierungstabellen für diverse Medikamente in Abhängigkeit von der normierten Glomerulären Filtrationsrate. Dabei werden jeweils vier Schweregrade der Niereninsuffizienz angegeben (40 ml/min, 20 ml/min, 10 ml/min und Anurie). Ohne Berücksichtigung der Tubulusfunktion wird hier von der glomerulären Filtration auf die filtrative Nierenfunktion geschlossen. Beispielsweise werden von Cefazolin 75 %, 50 %, 30 % und 10 % der Normaldosis empfohlen.[23]