Als Derivat (von lateinisch derivare ‚ableiten‘) oder Abkömmling einer Stammverbindung (Grundsubstanz, Muttersubstanz) kann in der organischen Chemie eine Substanz dann bezeichnet werden, wenn sie eine Struktureinheit besitzt, die der funktionellen Gruppe der Stammverbindung ähnlich ist und ein Strukturelement dieser funktionellen Gruppe im gleichen Oxidationszustand enthält. Häufig können Derivate aus der jeweiligen Stammverbindung in einem einzigen Reaktionsschritt hergestellt werden.[1][2] Diesem einen Reaktionsschritt kann eine Aktivierung der funktionellen Gruppe der Stammverbindung vorgeschaltet sein. Man spricht dann von reaktiven Derivaten der betreffenden Stammverbindung, die man bei Bedarf auch isolieren kann und aus denen sich weitere Derivate dann leicht herstellen lassen. Als reaktive Derivate von Carbonsäuren gut bekannt sind die Carbonsäurehalogenide. Chemische Reaktionen zur Herstellung von Derivaten bezeichnet man als Derivatisierung.

Bei komplexen Verbindungen mit mehreren gleichen oder unterschiedlichen funktionellen Gruppen ist eine gezielte Derivatisierungsreaktion an einer bestimmten funktionellen Gruppe häufig nicht möglich, ohne vorher die anderen funktionellen Gruppen mit Schutzgruppen zu blockieren.

Entsprechend der Definition sind die Stammverbindung und ihre Derivate strukturell eng verwandt. An Stelle der funktionellen Gruppe der Stammverbindung findet sich im Derivat zwar eine neue funktionelle Gruppe, die aber ein strukturelles Teilelement der funktionellen Gruppe der Stammverbindung im gleichen Oxidationszustand besitzt. Wegen der neuen funktionellen Gruppe haben Derivate meist deutlich andere chemische und physikalische Eigenschaften als die Stammverbindungen, können aber mit geeigneten Reaktionen in die Stammverbindung rücküberführt werden.

Abgrenzung des Begriffs Derivat

Entgegen der in der Einleitung formulierten strengen Definition des Begriffs Derivat wird er im allgemeinen Sprachgebrauch häufig ganz allgemein im Sinne von struktureller Abkömmling einer Grundsubstanz benutzt. Als Derivate der Grundsubstanz werden dann Substanzen bezeichnet, die eine ähnliche Struktur aufweisen oder die Struktur der Grundsubstanz als Teilstruktur besitzen. Der Begriff Derivat wird in diesen Fällen in der Absicht gebraucht, auf diese Ähnlichkeiten oder auf die teilweise strukturelle Identität des Abkömmlings mit der Struktur einer eventuell gut bekannten Stammverbindung hinzuweisen.

Beispiele für Derivate

Carbonsäurederivate

Die Gruppe der Carbonsäurederivate bietet die beste Möglichkeit zu erkennen, welche Verbindungen die in der Einleitung formulierten strengen Bedingungen für ein Derivat erfüllen. Carbonsäurederivate sind Carbonsäurehalogenide, Carbonsäureanhydride, Carbonsäureester, Carbonsäureamide, Carbonsäurehydrazide und Carbonsäureazide. Die Carbonsäurederivate unterscheiden sich von der zugrunde liegenden Stammverbindung Carbonsäure formal dadurch, dass nur die OH-Gruppe der Carboxygruppe durch eine andere, mit einem Heteroatom (meist: Hal, O, S, N) beginnende Gruppe ersetzt (substituiert) wurde. Die Carbonylgruppe der Carboxygruppe bleibt als wesentliches Strukturelement der funktionellen Carboxygruppe im gleichen Oxidationszustand erhalten und kann auch das Reaktionsverhalten der Carbonsäurederivate mitbestimmen. In allen Fällen können die Derivatisierungsreaktionen zur Herstellung der Derivate durch Hydrolysereaktionen wieder rückgängig gemacht werden.[3] Die relative Reaktivität der Carbonsäurederivate nimmt dabei in der unten dargestellten Reihenfolge ab. Dies lässt sich damit begründen, dass die Elektronegativität der blau gekennzeichneten Substituenten in dieser Reihenfolge auch abnimmt, was mit einem abnehmenden Austrittsvermögen verbunden ist.[4]

Weitere Beispiele für Derivate

Typische Beispiele für Derivate gemäß der Definition in der Einleitung:

Beispiele für strukturelle Abkömmlinge

Typische Beispiele für strukturelle Abkömmlinge, bei denen es sich nicht um Derivate im Sinne der obigen Definition handelt, die jedoch im allgemeinen Sprachgebrauch mitunter auch als Derivate bezeichnet werden.

Strukturelle Abkömmlinge von Methan und Ethan

Die gezeigten Verbindungen sind gemäß der strengen Definition in der Einleitung keine Derivate des Ethans, obwohl sie alle zwei C-Atome haben. Die Verbindungen sind eigenständige Verbindungen mit neuen funktionellen Gruppen, mit den C-Atomen meist in höheren Oxidationszuständen im Vergleich zum Ethan. Die Herstellungen dieser Verbindungen aus Ethan sind keine Derivatisierungsreaktion, sondern Synthesen.

Strukturelle Abkömmlinge von Phenol

Im allgemeinen Sprachgebrauch werden mitunter das in Chili enthaltene Capsaicin und das gut riechende Himbeerketon als Derivate des Phenols bezeichnet, da diese Verbindungen die Phenol-Teilstruktur enthalten. Da jedoch beide Verbindungen zusätzliche funktionelle Gruppen enthalten und die ursprüngliche OH-Gruppe von Phenol unverändert vorliegt, handelt es sich nicht um Derivate gemäß obiger Definition, sondern nur um strukturell verwandte Verbindungen.

Weitere Beispiele für eine irreführende Verwendung des Begriffs Derivat

Die Bedeutung der Derivatisierung

Derivate können zu bestimmten Zwecken ganz gezielt aus den Stammverbindungen (Grundsubstanz) mit Hilfe von Derivatisierungsreaktionen hergestellt werden. Dann sollen Derivate bestimmte zusätzliche Anforderungen erfüllen, die von der Grundsubstanz nicht erfüllt werden. Man kann folgende Einsatzgebiete abgrenzen:

Pharmazie

In der Pharmazie kann die Derivatisierung von besonderer Bedeutung sein, um vorhandene Arzneimittel wirksamer oder verträglicher zu machen. So kann man z. B. die Acetylsalicylsäure sowohl als ein Derivat der Essigsäure (ein Ester) bezeichnen, als auch als Derivat der phenolischen OH-Gruppe der Salicylsäure. Durch die Acetylierung, d. h. durch die Überführung in ein Derivat der Essigsäure, konnte die unzureichende schmerzstillende Wirkung der Salicylsäure verbessert werden.

Ein weiteres Beispiel für die Veränderung der Wirksamkeit eines Arzneistoffes durch Derivatisierung ist die Umwandlung von Morphin in Heroin, das als 3,6-Diacetylmorphin ein Essigsäurederivat des Morphins ist und durch (Acetylierung) aus Morphin gewonnen wird.

Chromatographie

In der gesamten chromatographischen Analytik spielt die Derivatisierung eine bedeutende Rolle.

In der Gaschromatographie und Gaschromatographie mit Massenspektrometrie-Kopplung werden Derivate meist eingesetzt, um nicht oder nur schwer verdampfbare Analyte in leichter flüchtige Derivate umzuwandeln, die der Chromatographie in der Gasphase zugänglich sind.

In der HPLC-Analytik werden häufig chromophore und/oder fluoreszierende Derivate eingesetzt, um die sensitive und spezifische Detektion im sichtbaren bzw. ultravioletten Spektralbereich zu ermöglichen.[2] In der Dünnschichtchromatographie können Substanzen mit Nachweisreagenzien unter Bildung gefärbter Derivate sichtbar gemacht werden. Man bezeichnet dies als postchronmatographische Derivatisierung.[5] Dabei werden die Derivatisierungsreagenzien auf die DC-Platten aufgesprüht oder die DC-Platten mit dem Derivatisierungsreagenz bedampft oder in damit getaucht.

Gängige Derivatisierungreagenzien in der Chromatographie sind

Charakterisierung von Verbindungen

Historische Bedeutung hat die Derivatisierung in der Analytik und Charakterisierung organischer Verbindungen:[6]

Homologe Reihen

Vom Begriff Derivat abgegrenzt werden muss der Begriff Homologon. Homologa sind Stoffe, die sich nur durch die Kettenlänge ihrer Grundbausteine unterscheiden; in der Organischen Chemie sind dies die Kohlenwasserstoffketten etwa von Alkanen, Alkenen, Alkoholen oder Carbonsäuren. Glieder dieser homologen Reihen sind in ihren chemischen und physikalischen Eigenschaften oft sehr ähnlich.[7] Homologa sind in aller Regel keine Derivate.

Literatur

Einzelnachweise

  1. Brockhaus ABC Chemie. VEB F. A. Brockhaus Verlag Leipzig 1965, S. 276.
  2. a b Eintrag zu Derivatisierung. In: Römpp Online. Georg Thieme Verlag, abgerufen am 8. November 2018.
  3. Oliver Reiser: Organische Chemie : Studieren kompakt. Hrsg.: Paula Y. Bruice. 5. Auflage. Pearson Studium, München 2011, ISBN 978-3-86894-102-9, S. 658.
  4. K. Peter C. Vollhardt, Neil E. Schore: Organische Chemie. Hrsg.: Holger Butenschön. 5. Auflage. Wiley-VCH, Weinheim 2011, ISBN 978-3-527-32754-6, S. 991–993.
  5. DocCheck Flexikon: Derivatisierung, abgerufen am 20. November 2018.
  6. Hans Beyer, Wolfgang Walter: Lehrbuch der organischen Chemie. 18. Auflage. S. Hirzel Verlag, Stuttgart 1978, ISBN 3-7776-0342-2.
  7. Brockhaus ABC Chemie. VEB F. A. Brockhaus Verlag Leipzig 1965, S. 551.