Als genetisch verwandt bezeichnet man in der Linguistik Sprachen, die auf eine gemeinsame Ursprache zurückgehen. Darüber hinaus bezeichnet „genetisch“ in der Linguistik allgemein eine Klasse von Fragestellungen und Problemen, welche bestimmte Aspekte der Entstehung oder Herkunft einer Sprache betreffen.[1] Genetisch miteinander verwandte Sprachen fasst man zu einer Sprachfamilie oder, allgemeiner, zu einer genetischen Einheit zusammen. Miteinander verwandte Sprachen zeichnen sich durch gemeinsame Entwicklungen (z. B. in Phonologie, Wortbildung, Morphologie) aus.[2] Die Sprachverwandtschaft wird üblicherweise, nach August Schleicher, in Form eines Stammbaums dargestellt (Stammbaumtheorie). Man bezeichnet deshalb Sprachen dann als verwandt, wenn sie von einer gemeinsamen Ursprache oder Grundsprache abstammen (siehe auch Sprachwandel).[3]

Abgrenzung zu anderen sprachlichen Ähnlichkeiten

Sprachen können aus verschiedenen Gründen ähnliche Eigenschaften haben; Ähnlichkeiten zwischen Sprachen müssen nicht auf gemeinsamer Herkunft aus einer Ursprache beruhen, sondern können andere Gründe haben:

Wenn zwei oder mehrere Sprachen Ähnlichkeiten zeigen, die systematisch und so zahlreich sind, dass sie nicht auf Zufall, Entlehnung oder Sprachuniversalien zurückgeführt werden können, ist die wahrscheinlichste Hypothese, dass die Sprachen auf eine gemeinsame Ursprache zurückgehen und miteinander verwandt sind.[6]

Komparative oder historisch-vergleichende Methode

Der Nachweis, dass zwei oder mehrere Sprachen genetisch miteinander verwandt sind, gilt als erbracht, wenn als Kriterien für Sprachverwandtschaft beobachtete, untersuchte und akzeptierte Phänomene beschreibbar sind. Beispielsweise belegen lautgesetzliche Phonementsprechungen, dass Sprachen wie Spanisch, Italienisch, Französisch und Portugiesisch miteinandere verwandt sind (alle gehen auf eine gemeinsame Ursprache zurück, das Vulgärlatein):[7]

Verwandte romanische Sprachen
Spanisch Italienisch Französisch Portugiesisch Deutsche Übersetzung
dos due deux dois zwei
diez dieci dix dez zehn
diente dente dent dente Zahn
de di de de von
duermen dormono dorment dormem sie schlafen

Die Analyse verschiedener Sprachen und die Herausarbeitung systematischer Ähnlichkeiten, die nicht auf Zufall, Sprachuniversalien oder Entlehnung zurückzuführen sind, wird als komparative oder historisch-vergleichende Methode bezeichnet. Um zufällige Ähnlichkeiten zwischen Sprachen auszuschließen, muss die Methode beweisen, dass die herausgearbeiteten Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Sprachen einem Gesetz folgen. Deshalb reicht es in der historisch-vergleichenden Methode nicht, nur eine ähnliche Aussprache zwischen Wörtern oder Morphemen mit gleicher Bedeutung relevant, sondern die Ähnlichkeiten mussten ein regelmäßiges Muster aufweisen und z. B. durch Lautgesetze beschreibbar sein. Neben dem Nachweis der genetischen Verwandtschaft ist ein weiteres Ziel der historischen und vergleichenden Sprachwissenschaft die Rekonstruktion der Ursprache oder Proto-Sprache, von der die genetisch miteinander verwandten Sprachen abstammen.[8][9]

Erklärungsmodelle für genetische Verwandtschaft der Sprachen

Biblische Erklärungen

Bis etwa zur Mitte des 18. Jahrhunderts wurde die Ähnlichkeit zwischen Sprachen vor allem biblisch begründet. Im Alten Testament finden sich einige Narrative, die die Vielfalt der Sprachen auf der Welt erklären:

Mit William Jones’ Entdeckung, dass Sanskrit mit Latein und Griechisch verwandt ist und möglicherweise auch mit Gotisch, Keltisch und Persisch, war der Ursprung der Indogermanistik und der Suche nach einer indogermanischen Ur- oder Proto-Sprache. Jones selbst blieb jedoch in seinem Denken noch in biblischen Erklärungen für die sprachlichen Ähnlichkeiten verhaftet. Langfristig trugen Jones’ Erkenntnisse jedoch zum Ende einer religiös motivierten Ethnographie bei. Ende des 18. Jahrhunderts beriefen sich Gelehrte nicht mehr auf die Bibel als Erklärungsmodell für Urgeschichte oder Philologie.[11]

Stammbaumtheorie

Die Stammbaumtheorie in der Linguistik wurde von August Schleicher Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt, um die Ähnlichkeit zwischen Sprachen zu erklären. Nach dieser Theorie entwickeln sich Sprachen analog der Evolution biologischer Arten aus einer Ursprachen (Protosprache) entwickeln. Aus der Ursprache entwickeln sich Tochtersprachen, und die Verwandtschaftsverhältnisse lassen sich wie in der Biologie in Stammbäumen darstellen.[12]

Wellentheorie

Die Wellentheorie der Sprachentwicklung wurde ursprünglich von Hugo Schuchardt 1870 in die historische Sprachwissenschaft eingeführt und von Johannes Schmidt weiterentwickelt. Nach dieser Theorie entstanden die Ähnlichkeiten zwischen indogermanischen Sprachen auch aufgrund allmählicher räumlicher Verbreitung sprachlicher Neuerungen. Die Wellentheorie ergänzt die von August Schleicher entwickelte Stammbaumtheorie. Mithilfe der Wellentheorie kann die Ausbreitung bestimmter sprachlicher Erscheinungen über Sprachgrenzen hinaus einfacher erklärt werden.[12]

Abgrenzung zur genetischen Verwandtschaft in der Biologie

Abgegrenzt werden muss der Begriff der genetischen Verwandtschaft in der Linguistik von dem Begriff der genetischen Verwandtschaft in der Biologie, im speziellen Fall in der Anthropologie bzw. Ethnologie: Die Sprecher von genetisch verwandten Sprachen müssen nicht auch ethnisch (biologisch-genetisch) verwandt sein. Als Beispiel dafür kann das Spanische dienen: Ein Teil der Bevölkerung Lateinamerikas spricht Spanisch als Muttersprache, gehören aber unterschiedlichen Ethnien an.[13][14]

Die Kreolsprachen lassen sich ebenfalls nicht mit den Begriffen der genetischen Verwandtschaft erfassen. Sie werden von einer eigenen Unterabteilung der Linguistik, der Kreolistik, untersucht. Ähnlich wie die Kreolsprachen lassen sich auch die meisten Plansprachen nicht oder nur schwer genetisch klassifizieren, obwohl man deren Ursprung meist genau kennt.

Siehe auch

Literatur

Deutschsprachig

Englischsprachig

Einzelnachweise und Anmerkungen

  1. Jost Gippert: Genetisch. In: Helmut Glück (Hrsg.): Metzlers Lexikon Sprache. J.B. Metzler, Stuttgart/Weimar 2005, S. 220.
  2. Gerhard Jäger: Wie die Bioinformatik hilft, Sprachgeschichte zu rekonstruieren. Universität Tübingen, S. 1–27.
  3. Reinhard Köhler, Gabriel Altmann, Raĭmond Genrikhovich Piotrovskiĭ: Quantitative Linguistik. Band 27. Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, De Gruyter, Berlin 2005, ISBN 3-11-015578-8, S. 633 ff.
  4. a b c Benjamin W. Fortson IV: Indo-European Language and Culture: an introduction. Blackwell, Oxford 2004, ISBN 1-4051-0316-7, S. 1.
  5. Sprachwandel, 8.3: Genetische Verwandtschaft, christianlehmann.eu, aufgerufen am 19. November 2023.
  6. Benjamin W. Fortson IV: Indo-European Language and Culture: an introduction. Blackwell, Oxford 2004, S. 3.
  7. Benjamin W. Fortson IV: Indo-European Language and Culture: an introduction. Blackwell, Oxford 2004, S. 2–3.
  8. Benjamin W. Fortson IV: Indo-European Language and Culture: an introduction. Blackwell, Oxford 2004, S. 3–4.
  9. Sprachwandel, 8.2: Historisch-vergleichende Methode, christianlehmann.eu, aufgerufen am 19. November 2023.
  10. a b Benjamin W. Fortson IV: Indo-European Language and Culture: an introduction. Blackwell, Oxford 2004, S. 19–20.
  11. Benjamin W. Fortson IV: Indo-European Language and Culture: an introduction. Blackwell, Oxford 2004, S. 20–21.
  12. a b Sprachwandel, 8.3: Genetische Verwandtschaft, christianlehmann.eu, aufgerufen am 19. November 2023.
  13. Genetik und Sprache. Stammbaum der biologischen Gene und Sprachen
  14. Ernst Kausen: Die indogermanischen Sprachen von der Vorgeschichte bis zur Gegenwart. Buske, Hamburg 2012, ISBN 978-3-87548-612-4, S. 5.