Heinrich Popitz (* 14. Mai 1925 in Berlin; † 1. April 2002 in Freiburg im Breisgau) war ein deutscher Soziologe, der vor dem Hintergrund der Philosophischen Anthropologie bedeutende Beiträge zur Allgemeinen Soziologie leistete.[1] Popitz publizierte insbesondere zu elementaren Begriffen wie Soziale Norm, Soziale Rolle oder Macht und Gewalt.
Heinrich Popitz wuchs in Berlin auf, er war der Sohn des preußischen Finanzministers und Widerstandskämpfers Johannes Popitz. Seine Mutter starb, als er ein Kind war. Sein Vater wurde hingerichtet, als er 19 Jahre alt war. Popitz studierte in Heidelberg, Göttingen und Oxford Philosophie, Geschichte und Ökonomie. Nach seiner Promotion im Jahr 1949 bei Karl Jaspers habilitierte er sich 1957 bei Arnold Bergstraesser und arbeitete dann an der Sozialforschungsstelle an der Universität Münster in Dortmund. 1959 wurde er Professor der Soziologie in Basel. 1964 wurde er Gründungsdirektor des neu geschaffenen Instituts für Soziologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, an dem er bis zu seinem Tod 2002 wirkte. 1970/71 war Popitz für ein Jahr Gast an der New School for Social Research in New York, an deren Theodor-Heuss-Lehrstuhl er unterrichtete.
Mit seiner Schrift „Der entfremdete Mensch. Zeitkritik und Geschichtsphilosophie des jungen Marx“ (Dissertationsschrift von 1949) hatte Popitz entscheidenden Anteil an der Wiederentdeckung und Interpretation von Marx’ Pariser Manuskripten von 1844 in Deutschland.[2] Popitz zeigte, und das war richtungsweisend, dass Marx „den Menschen als ‚Naturwesen‘, als gesellschaftliches Gattungswesen begreift, kein ‚fixes‘ Wesen mit ‚statischen‘ Eigenschaften, sondern der sich ändernden Natur unterworfen, die ihm weder objektiv noch subjektiv unmittelbar und adäquat vorhanden ist“.[3]
Popitz hat wichtige Beiträge zur Industriesoziologie (Das Gesellschaftsbild des Arbeiters, Technik und Industriearbeit, gemeinsam u. a. mit Hans Paul Bahrdt), zur sozialen Rolle (Der Begriff der sozialen Rolle als Element der soziologischen Theorie), zu sozialen Normen (Über die Präventivwirkung des Nichtwissens, Die normative Konstruktion von Gesellschaft), zur Soziologie der Macht (Prozesse der Machtbildung, Phänomene der Macht) und zur historischen Anthropologie bzw. Techniksoziologie (Der Aufbruch zur artifiziellen Gesellschaft, Wege der Kreativität) geleistet.
Ebenso wie sein Freiburger Kollege Günter Dux arbeitete Popitz in den 1970er und 1980er Jahren daran, Grundgedanken der philosophischen Anthropologie in die Form soziologischer Aufklärung zu bringen. Seine Arbeiten sind seither durchweg elementarsoziologisch. Er skizzierte sein Erkenntnisinteresse wie folgt:
Popitz gilt als „Meister der kleinen Form“[5], der seine Theorien in Essays darlegte und nur zwei Monografien publizierte. Ihn kennzeichnete ein permanentes Bemühen um Verknappung, „alles was ihm auch nur einen Deut zu lang erschien, wanderte umgehend in den Papierkorb.“[5]
Seine Machttheorie hat Popitz in verschiedenen Essays entwickelt, die gesammelt unter dem Titel Phänomene der Macht (zuerst 1986, erweiterte Auflage 1992) erschienen. Popitz versteht unter Macht „das Vermögen, sich gegen fremde Kräfte durchzusetzen“.[6] Von dieser bei Max Weber grundlegenden Machtdefinition ausgehend, entwickelt Popitz unter Einfluss von Helmuth Plessners Anthropologie seine Phänomenologie der Macht. Ausgehend von den Handlungsfähigkeiten und Abhängigkeiten des Menschen, die in seiner „exzentrischen Positionalität“ begründet liegen, unterscheidet Popitz vier Grundformen der Machtausübung.
Weitergehend als Max Weber hat Heinrich Popitz Gewalt als besondere Form von Machtausübung „Todesmacht von Menschen über Menschen“ eingeschlossen, anthropologisch verortet und soziologisch präzisiert: „Der Mensch muß nie, kann aber immer gewaltsam handeln, er muß nie, kann aber immer töten […]. Gewalt überhaupt und Gewalt des Töten im besonderen ist […] kein bloßer Betriebsunfall sozialer Beziehungen, keine Randerscheinung sozialer Ordnungen und nicht lediglich ein Extremfall oder eine Ultima Ratio (von der nicht so viel Wesens gemacht werden sollte). Gewalt ist in der Tat […] eine Option menschlichen Handelns, die ständig präsent ist. Keine umfassende soziale Ordnung beruht auf der Prämisse der Gewaltlosigkeit. Die Macht zu töten und die Ohnmacht des Opfers sind latent oder manifest Bestimmungsgründe der Struktur sozialen Zusammenlebens.“[10]
Heinrich Popitz definiert Gewalt als eine
Gewalt, die ihren Sinn im Vollzug selbst hat, bezeichnet er an anderer Stelle als bloße Aktionsmacht und unterscheidet sie von bindender Aktionsmacht. Unter bindender Aktionsmacht versteht Popitz instrumentalisierte Gewalt zum Zweck der dauerhaften Unterwerfung und Machterlangung. Diese begrifflichen Setzungen ermöglichen ihm, unter Einbezug des Kontextes einer Gewalttat, sowohl das »wie« und das »was« der selbstzweckhaften Gewalt als auch das »warum« dauerhaft bindender Gewaltphänomene zu rekonstruieren (vgl. von Trotha 1997: 20).[11] Popitz will damit Gewalt als mehr oder weniger stark formalisiertes und entpersonalisiertes Gewaltphänomen begreifen und als ein historisch Gewordenes rechtfertigen.
Mit dem Konzept der bindenden Aktionsmacht ist Popitz vor die Differenzierung von Macht, Herrschaft und Gewalt zurückgegangen und hat deren Gegensätzlichkeit vermittelt. Denn mit bindender Aktionsmacht begreift er Gewalt als ordnungsstiftende Erfahrung (vgl. Popitz 1986: 61ff.). Ordnung ist jedoch eine Grundtatsache des menschlichen Lebens und Gewalt ist damit zu derselben geworden. Die radikale Ablehnung von Gewalt wird überflüssig. Auf den unteren Stufen des geschichtlichen Prozesses sieht Popitz die Gewalt unter bestimmten Umständen noch als moralisch verwerflich an. Erst wenn die Macht ihren Weg von der sporadischen Macht bis zu ihrer Institutionalisierung genommen hat (vgl. Popitz 1986: 233f.)[12], tritt sie paradoxerweise als soziale Ordnung in zivilisierter Form auf. Popitz reflektiert diesen paradoxen Zusammenhang:
Normen werden von Popitz als das Basis-Element der sozialen Existenz von Menschen begriffen. Er versuchte, die universalen Konstruktionsprinzipien der sozialen Normierung darzustellen. Dies bereitete er in mehreren Aufsätzen vor und fasste es in dem schmalen Band „Die normative Konstruktion der Gesellschaft“ (1980) zusammen. Insbesondere in seinem berühmten Aufsatz „Über die Präventivwirkung des Nichtwissens“ (1968) zeigt er, dass Normgeltungen auf Sanktionsgeltungen beruhen, dass aber eine umfassende Sanktionsgeltung (ausnahmslos alle Normabweichungen würden aufgedeckt und bestraft) normzerstörend sei; die totale Verhaltenstransparenz würde die Legitimität der sozialen Normen unterhöhlen.[13]
Popitz nennt vier universal gültige Grundmerkmale sozialer Verhaltensnormierung:
In allen Gesellschaften wirken gemäß Popitz drei Grundelemente sozialer Normierung: [15] Allgemeine Normen und nicht-reziproke sowie reziproke Partikularnormen.
Die drei Formen sozialer Normierung haben bei Popitz eine universale strukturelle Basis, die der Integration von nachfolgenden Generationen. In allen Gesellschaften würden Kinder in einem primären sozialen Gehäuse aufwachsen, das durch allgemeine Zugehörigkeitsnormen und reziproke sowie nicht-reziproke Partikularnormen strukturiert sei.[19]
In einem der Schüttelreime, die er häufig verfasste, schrieb Popitz:
• Baldo Blinkert • Klaus H. Fischer • Friedrich Pohlmann • Christian Sigrist • Gerd Spittler • Hubert Treiber