Jean Mouton (ursprünglich Jean de Holligue; * vor 1459 in Samer (heute im Département Pas-de-Calais); † 30. Oktober 1522 in Saint-Quentin) war ein franko-flämischer Komponist, Sänger und Kleriker der Renaissance.[1][2]

Leben und Wirken

Zur Biografie von Jean Mouton gibt es nur wenige Belege. In diesen Dokumenten wird er regelmäßig „Jean de Holluigue dit Mouton“ genannt, in den musikalischen Quellen nur Mouton (oder auch Moton oder Motone). Über Moutons Jugend und Ausbildung gibt es keine Nachweise; dass er Schüler von Josquin gewesen sei, wie von Pierre de Rosnard im Vorwort zum Livre des meslanges (erschienen Paris 1560) behauptet, ist gänzlich unwahrscheinlich.

Entsprechend dem ersten gültigen Beleg wurde er im Oktober 1477 als chantre escolatre, also als Sänger und Religionslehrer, in die Kollegiatkirche Notre-Dame in Nesle bei Péronne aufgenommen; hier erhielt er am 22. Juni 1483 als inzwischen geweihter Priester einen Sitz im Kapitel. Aus dieser Datumsangabe ergibt sich das vermutete Geburtsjahr, weil für das Mindestalter einer Priesterweihe 25 Jahre galt. Irgendwann in den folgenden Jahren wechselte er an die Kollegiatkirche in Saint-Omer, wo er von 1494 bis 1495 als Sänger und Notenkopist tätig war. Für das Jahr 1500 gibt es einen Beleg, dass er maistre des effans an der Kathedrale von Amiens gewesen ist (der Beginn dieser Tätigkeit ist nicht bekannt). Am 17. September des folgenden Jahres wurde er an der Kollegiatkirche Saint-André in Grenoble angestellt, um die Kapellknaben „in organo et plano cantu“ auszubilden, mit dem ungewöhnlichen Vorrecht, sich die Schüler selbst auszusuchen (promisit bene et cum diligencia pueros quos videret magis aptos ad cantum instruere).

Aus dieser Zeit wird die Begebenheit berichtet, dass ein Sänger der Stadtkirche Notre-Dame in Grenoble mit besonders schöner Stimme zu dem Chor von Jean Mouton überlief, woraufhin zwei andere Sänger ein Noe in organo facto et notato de novo (ein neu geschriebenes Notenexemplar), welches Mouton für das Fest des Hl. Andreas (30. November) unter Verschluss hielt, entwendet haben. Die fragliche Motette ist nicht überliefert, doch stellt diese Notiz einen der frühesten Belege für Moutons Tätigkeit als Komponist dar. Ab 1. April 1502 bekam er das höhere Gehalt eines „Presbyters auf Lebenszeit“, dennoch gab er diese Stellung noch vor dem 27. Juli ohne Erlaubnis des Kapitels auf.

König Ludwig XII. von Frankreich (Regierungszeit 1498–1515) hatte mit seiner Ehefrau Anne de Bretagne vom 23.–28. Juni 1502 auf der Reise nach Genua einen Besuch in Grenoble gemacht und offenbar bei dieser Gelegenheit den Komponisten für die Hofkapelle der Königin abgeworben. Einige „Staatsmotetten“ von Jean Mouton deuten darauf hin, dass er noch vor dem Jahr 1509 in dem Dienst der Königin stand. In ihrer Hofkapelle waren mehr Komponisten versammelt als in der von König Ludwig, außer Mouton beispielsweise Antonius Divitis, Jean Richafort und Claudin de Sermisy. Königin Anne schätzte Mouton besonders und verschaffte ihm an seiner bisherigen Wirkungsstätte in Grenoble ein frei werdendes Kanonikat mit Pfründe, in welches er am 10. Mai 1510 eintrat. In dem betreffenden Dokument wird er magister capelle genannt; dieses Amt teilte er sich vielleicht mit Divitis. Spätestens seit 1509 besaß Mouton auch ein Kanonikat im Bistum Thérouanne.

Etwa um diese Zeit kam der junge Adrian Willaert zum Jura-Studium nach Paris, wechselte aber bald zur Musik und wurde Moutons Schüler. Der spätere Willaert-Schüler Gioseffo Zarlino (1517–1590) lässt Willaert von einem il mio precettore Gio. Motone sprechen. Die stilistische Linie Mouton - Willaert ist offensichtlich und stellt eine der Leitlinien dieser musikgeschichtlichen Epoche dar.

Nach dem Tod von Königin Anne 1514 wurde Mouton von der Hofkapelle von König Ludwig übernommen; dieser starb im folgenden Jahr. Belegt ist Moutons Teilnahme an den Trauerfeierlichkeiten am 15. Januar 1515. Er ging dann an die Kapelle seines Nachfolgers Franz I., wo er bis zu seinem Lebensende blieb. Auch bei seinem neuen Dienstherrn stand der Komponist nach kurzer Zeit in besonderer Gunst. Er reiste von September/Oktober bis Dezember 1515 im Gefolge des Königs nach Italien und wirkte in Bologna mit der Hofkapelle beim Treffen von König Franz mit dem musikliebenden Papst Leo X. (Amtszeit 1513–1521) mit, die hier über den Abschluss eines Konkordats verhandelten. Am 17. Dezember 1515 ernannte der Papst den französischen Hofkapellmeister Antoine de Longueval (fl. 1498–1525) und Mouton zu apostolischen Notaren, eine Geste, die auf die besondere Wertschätzung beider durch Leo X. zurückgeht.

Ein weiterer Herrscher, Herzog Alfonso I. d’Este aus Ferrara, bemühte sich ebenfalls lebhaft um Kompositionen Moutons, nachdem er ihm zuvor mehrfach begegnet war; er drängte seine Agenten in Paris wiederholt, ihm Werke Moutons zuzusenden. Aus dieser Zeit ist auch eine persönliche Charakterisierung Moutons überliefert, die ein gewisser Jean Michel seinem Dienstherrn Sigismondo d’Este am 15. November 1515 aus dem französischen Hoflager schrieb: Jean Mouton s’en a va Lorete et passera par Ferrara [...] vous le verres et luy feres bonne chère car il merite. Oultre qu’il est verteulx c’est le plus humil qu’on saroit trouver, et bon serviteur de Dieu. Tant comme je puis le vous recommande (sinngemäß etwa: „Jean Mouton hatte sich nach Loreto begeben und kommt in Ferrara vorbei. Sie werden ihn sehen und ihm viel Glück wünschen, denn er verdient es. Auch wenn er von derber Art ist, ist er doch der Demütigste, den man finden kann, und ein guter Diener Gottes. Wie ich ihn Ihnen doch nur empfehlen kann“).

Zu einem späteren, nicht genau bekannten Zeitpunkt erhielt Mouton ein bepfründetes Kanonikat an der Kollegiatkirche Saint-Quentin, vielleicht in der Nachfolge seines 1518 verstorbenen Kollegen Loyset Compère. Es ist auch anzunehmen, dass er im Jahr 1520 an dem Treffen des französischen und englischen Hofs auf dem camp du drap d’or teilgenommen hat, welches mit ebensolchem musikalischen Aufwand wie das fünf Jahre zuvor in Bologna gefeiert wurde. Als der Chronist und Musiktheoretiker Heinrich Glarean sich während seiner Studienzeit (1517–1522) in Paris aufhielt, sprach er mit Mouton und machte eine besondere Anmerkung über seine Art der Sprache; in dem Schlusskapitel seiner Schrift Dodekachordon (erschienen Basel 1547) schließt er die Würdigung Jean Moutons De Symphonetarum ingenio mit einem längeren lateinischen Text ab, in dem er ihn gleichermaßen wegen seiner gelehrten Schreibweise wie wegen seines „fließenden Gesangs“ rühmt.

Mouton starb am 30. Oktober 1522 in Saint-Quentin und wurde wie zuvor Compère in der dortigen Kollegiatkirche beigesetzt. Das Grabmal wurde später zerstört; von dessen Inschrift besteht eine Kopie aus dem 17. Jahrhundert: Ci gist Maistre Jehan de Holluigue, dit Mouton, en son vivant chantre du roy chanonine de Thérouanne et de cette église, qui trépassa le pénultième jour d’octobre MDXXII. Priez Dieu por son ame.

Bedeutung

Jean Mouton muss an der Hofmusik beider Könige eine privilegierte Stellung gehabt haben; auch sind von ihm so viele „Staatsmotetten“ überliefert wie von keinem anderen Komponisten seiner Zeit, was auf eine offizielle oder inoffizielle Funktion als „Hofkomponist“ hindeuten kann. Er war damit ein wichtiges Glied in der Reihe der Hofsänger, die den Übergang vom „komponierenden Sänger“ zum „singenden Komponisten“ vollzogen haben.

Darüber hinaus gibt es in seiner Epoche kaum einen weiteren bedeutenden Komponisten, bei dem die Überlieferungsgeschichte seiner Werke ein so typisches und scharf umrissenes Bild bietet. Mouton war einer der Hauptmeister der Motette zwischen Josquin und Willaert. Seine Sakralkompositionen zeigen eine differenzierte Cantus-firmus-Technik und komplizierte Kanonkünste; in den späteren Jahren verwendet er zunehmend Parodieverfahren und Durchimitation sowie den Wechsel zwischen homorhythmischen und imitatorischen Abschnitten mit reich gestalteten Kadenzen. Bei vielen seiner Motetten ist der historische Anlass eindeutig, bei den meisten aber die politische Funktion gesichert.

Moutons musikalischer Stil war in seiner Zeit wohl einzigartig und auf jeden Fall höchst innovativ, entfaltete eine große Wirkung und erlebte eine „intensive und extensive“ Rezeption; dieser Stil „veraltete“ aber dadurch ziemlich schnell. Er unterscheidet sich vom Stil Josquins und dessen Nachfolgern ziemlich radikal, dagegen verbinden ihn viele Kennzeichen mit anderen Komponisten der französischen Hofkapelle zwischen 1500 und 1520, besonders mit Antoine de Févin.

Wo sein Stil besonders rein auftritt, dort hat die musikalische Konstruktion Vorrang vor der Darstellung des Textes; hier treten Kontraste gänzlich hinter dem gleichmäßigen und zäsurarmen Fluss der Stimmen zurück in einem auf weiten Strecken vollstimmigen Satz. Wegen seiner Neigung, den Text der Musik unterzuordnen, spielt bei Mouton eine korrekte oder gar emphatische Textdeklamation kaum eine Rolle, und eine affektgeprägte oder bildhafte Motivik der Deklamation ist sehr selten. Dagegen herrscht eine außerordentlich ausgewogene Melodik vor, bei der die einzelnen Phrasen erst mit motivisch prägnanten und syllabisch deklamierten Einfällen anfangen, dann aber schnell in eine Melismatik übergehen, die eine stufige Bewegung und sanfte Rhythmik besitzt. Dabei zeigt sich der Komponist oft als begnadeter und origineller Melodiker.

Die bei manchen Werken ins Extreme getriebene Kombinatorik von Motiven ist nur ein Ausdruck seines zugespitzten kontrapunktischen Denkens; auch seine Kanontechnik geht hierauf zurück. Bezeichnend ist jedoch Moutons Tendenz, Kanons eher zu verstecken als sie demonstrativ vorzuführen. An anderer Stelle stehen aber echte Prachtexemplare von Kanons, wie seine Quadrupel-Kanons zu acht Stimmen. Moutons Meisterschaft bei Kanons und sein Bezug zu seinem Schüler Willaert zeigen sich besonders in der Druckausgabe von Kanons des italienischen Musikverlegers Andrea Antico (um 1480 – nach 1539) aus dem Jahr 1520, in der drei elegante Kanons von Jean Mouton und acht nicht ganz so elegante von Adrian Willaert enthalten sind. In der Literatur über Mouton wurde auch lange Zeit betont, dass die Motetten die Hauptwerke des Komponisten seien; in der Zwischenzeit ist es aber unbestritten, dass er für die Geschichte der Messkomposition ebenso bedeutend gewesen ist.

Werke

Gesamtausgabe: Joannis Mouton Opera omnia. Herausgegeben von A. C. Minor, Th. G. MacCrakken. [ohne Ortsangabe] 1967 und folgende (= Corpus mensurabilis musicae. Nr. 43) Moutons überliefertes Werk umfasst 14 Messen, ein Credo, etwa 120 Motetten (davon 20 mit umstrittenen Zuschreibungen), 10 Magnificats, etwa 24 Chansons. Überdies sind die Titel weiterer 7 Messen und 3 Motetten überliefert, die bislang nicht identifiziert werden konnten oder verschollen sind. Die Forschung teilt das Werk in 4 Phasen ein; (1) etwa bis 1500: stark konstruktivistischer Zug, die rhythmische Struktur ist unausgeglichen; (2) etwa 1500–1505: akkordisch konzentrierter Satz, die Stimmen werden gleichberechtigt behandelt, kein Cantus firmus mehr, Superius und Bassus häufig in Dezimenparallelen; (3) etwa 1505–1512: Auflockerung des Satzes; Konstruktivismen werden gemieden; (4) etwa 1514–1522: Schlichtheit des Satzes, knappe Melodie, strikte Durchimitation.

Literatur (Auswahl)

Einzelnachweise

  1. Ludwig Finscher: Mouton, Jean. In: Ludwig Finscher (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Zweite Ausgabe, Personenteil, Band 12 (Mercadante – Paix). Bärenreiter/Metzler, Kassel u. a. 2004, ISBN 3-7618-1122-5 (Online-Ausgabe, für Vollzugriff Abonnement erforderlich)
  2. Marc Honegger, Günther Massenkeil (Hrsg.): Das große Lexikon der Musik. Band 5: Köth – Mystischer Akkord. Herder, Freiburg im Breisgau u. a. 1981, ISBN 3-451-18055-3.