Querschnittsveränderung führt zu einer Umlenkung und Verdichtung von Kraftfeldlinien und damit zu Spannungsspitzen

Die Kerbwirkung tritt an eingeschnittenen oder gekerbten Körpern auf, die auf Zug, Scherung oder Torsion belastet werden. Sie setzt sich aus zwei Mechanismen zusammen:

Die Kerbwirkungszahl ist als Quotient aus Formzahl und Stützziffer definiert:

Technische Bedeutung

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Die Kerbwirkung ist häufig unerwünscht, da sie Bauteile in technischen Anwendungen höher beansprucht, sodass diese, um ihre bestimmungsgemäße Lebensdauer zu erreichen, größer gebaut werden müssen oder ansonsten vorzeitig versagen. Andererseits wird die Kerbwirkung gezielt eingesetzt.

Siehe hierzu auch: Kerbfestigkeit

Gezielte Anwendung

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Links: gekerbtes Bauteil; rechts: Entlastungskerbe verbessert Kraftfluss

Kerbwirkung als Störfaktor und Gegenmaßnahmen

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Kerbwirkung verursacht Riss in Beton

Kerben, die zu einem unerwünschten Ausfall führen, können zahlreiche Ursachen haben:

Mechanismus

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Kerbwirkung
Kerbwirkung

Die sechs Bilder zeigen, wie die Kerbwirkung entsteht:

  1. Ausgangslage: Ein normaler Rundstab, der nicht belastet wird und eine zylindrische Form hat.
  2. Wird an den Enden eine Zugkraft längs der Bauteilachse aufgebracht, dann verlängert sich der Stab unter dem Einfluss der Zugkraft. Gleichzeitig zieht er sich quer zur Zugrichtung (rote Pfeile) zusammen (Querkontraktion).
    Wie sehr er sich in Querrichtung zusammenzieht, wird von der Querdehnungszahl (Poissonzahl ) beschrieben:
    1. Einige Werkstoffe dehnen sich bei Zug aus ( < 0).
    2. Viele Gebrauchswerkstoffe schnüren sich so ein, dass das Volumen näherungsweise konstant bleibt (perfekte Volumenkonstanz entspricht  = 0,5).
  3. Schweißt man an den Rundstab eine Hülse an (gelb hinterlegt) und belastet ihn wiederum auf Zug, so ändert sich nichts Wesentliches an den Verhältnissen. Auch hier zieht sich der Stab in Querrichtung zusammen.
  4. Wenn allerdings die Hülse mit dem Rundstab über die gesamte Länge fest (stoffschlüssig) verbunden wäre oder – was von der Wirkung analog wäre – der Zugstab eingekerbt wird, ergeben sich zusätzliche Spannungen. Die gelb markierten Zonen werden von der Zugkraft in Längsrichtung nicht gedehnt, deshalb ziehen sie sich nicht in Querrichtung zusammen. Andererseits möchte sich das Kernmaterial (grau hinterlegt), welches die Zugkraft weiterleitet, nach innen zusammenziehen (rote Pfeile). Die gelb markierten Zonen sacken aber nicht nach und erzeugen stattdessen eine Querkraft, die nach außen gerichtet ist und das Kernmaterial an der Querkontraktion hindern will.
  5. Hier ist die Spannungsverteilung in einem Rundstab dargestellt, der auf Zug belastet wird. Die Spannungen verteilen sich einigermaßen gleichmäßig über den gesamten Querschnitt.
  6. Wählt man eine dickeren Zugstab und versieht ihn mit einem Einstich, sodass der Restquerschnitt den gleichen Durchmesser hat, wie der vorige Rundstab, dann ergibt sich an den Übergangsstellen eine Spannungsüberhöhung. In dieser Situation entstehen nicht nur Zugspannungen in Längsrichtung, sondern die Kerbe erzeugt auch Zugspannungen in Querrichtung. Das tragende Kernmaterial wird zusätzlich belastet und der nun mehrachsige Spannungszustand führt zu lokalen Spannungsspitzen. Die Welle mit der Kerbe ist also weniger tragfähig als der ungekerbte, schmale Rundstab, obwohl er mehr Material und im engsten Querschnitt den gleichen Durchmesser hat.

Nimmt man an, dass in Bild (4) der größte Durchmesser und der kleinste Durchmesser ist, dann reißt dieser gekerbte Stab bei geringeren Zugspannungen, als ein Stab, der über die gesamte Länge nur einen Durchmesser besitzt.

Wie stark eine Kerbe die Spannung überhöht, hängt allein von der Form der Kerbe ab. Spitze oder tiefe Kerben wirken stärker als gut ausgerundete oder flache Kerben.

Welche örtliche Schädigungswirkung zustande kommt, hängt vom Werkstoff und der Belastungsart ab.

Berechnung

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Die Berechnung von Kerben im Zuge der Tragfähigkeitsberechnung von Wellen ist in der DIN-743 (Teil 1–4) genormt. Für die Konstruktion von Bauteilen unter Berücksichtigung der Kerbwirkung sind zwei Größen relevant: Die Formzahl und die Kerbwirkungszahl . Die Formzahl ist definiert als das Verhältnis von Spannungsüberhöhung zu Nennspannung, die Kerbwirkungszahl als Verhältnis der Ausschlagsspannungen von ungekerbter und gekerbter Probe.[1]

Formzahl

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Visualisierung der Spannungsspitze an einem gekerbten Flachstab

Der Spannungsverlauf im Querschnitt einer Kerbe ist, anders als bei einem flachen Zugstab, nicht linear. An den Rändern finden sich Spannungsspitzen, die teilweise um ein Vielfaches höher sind als die Nennspannung. Zum Ausgleich ist die tatsächliche Spannung in der Querschnittsmitte geringer als die Nennspannung. Die Formzahl setzt nun die höchste in der Kerbe vorliegende Spannung in ein Verhältnis zur Nennspannung:

Dabei ist

die Spannungsspitze
die Nennspannung.[1]

Die Formzahl ist abhängig von der Geometrie des Werkstücks. Es gilt dabei

.[1]
Graph zur Bestimmung der Formzahl bei einem Wellenabsatz

ist eine Geometriefunktion, die für jede Kerbe unterschiedlich ist. Selbst für einfache Geometrien nimmt in der Regel komplizierte Zusammenhänge an.[2] In der Praxis wird die Formzahl meist nicht von Hand berechnet, sondern aus in Tabellenwerken abgedruckten Diagrammen abgelesen. Im nebenstehenden Bild wird ein derartiges Diagramm gezeigt. Auf der Abszisse wird das Verhältnis des Kerbradius zum Wellendurchmesser abgetragen, auf der Ordinate die Formzahl . Die blauen, übereinanderliegenden Linien repräsentieren das Verhältnis der Durchmesser an dem am Wellenabsatz vorliegenden Durchmesserübergang. Höherliegende Linien stellen dabei höhere Durchmesserübergänge dar. Es wird sichtbar, dass die Formzahl besonders große Werte bei scharfen Kerbradien und großen Durchmesserübergängen annimmt. Folglich sind bei der Konstruktion von Bauteilen flache Kerben und kleine, eventuell in mehreren Schritten realisierte Durchmesserübergänge gute Lösungen.[1]

Formzahlen können auch mithilfe der Finite-Elemente-Methode (FEM) ermittelt werden. Gleiches gilt für spannungsoptische Untersuchungen und Dehnungsmessungen. Bei bekannter Stützziffer kann die Kerbwirkung für den speziellen Anwendungsfall ermittelt werden.

Kerbwirkungszahl

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Die Kerbwirkungszahl wird zur Auslegung von unter schwingender Beanspruchung stehenden Bauteilen verwendet. Zur Bestimmung werden eine gekerbte und eine ungekerbte Probe einem Wöhlerversuch unterzogen. Die gekerbte Probe bricht bei gleicher Ausschlagsspannung in der Regel nach einer geringeren Zahl an Lastzyklen, da die Kerbe zum Ausgangspunkt eines Risses wird. Folglich liegt Dauerfestigkeit bei der glatten Probe bei höheren Ausschlagsspannungen vor als bei der gekerbten Probe. Das Verhältnis dieser beiden Ausschlagsspannungen ist definiert als Kerbwirkungszahl. Es gilt

.

Dabei ist:

die Ausschlagsspannung, die bei einer ungekerbten Probe zu Dauerfestigkeit führt
die Ausschlagsspannung, die bei einer gekerbten Probe zu Dauerfestigkeit führt.

Während die Formzahl eine rein geometrische Größe ist, wird die Kerbwirkungszahl über die Ergebnisse empirischer Versuche definiert und ist abhängig von der Zugfestigkeit des verwendeten Werkstoffs.[1]

Siehe auch

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Commons: Kerbwirkung – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Literatur

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Einzelnachweise

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  1. a b c d e Christoph Broeckmann, Paul Beiss: Werkstoffkunde I. Institut für Werkstoffanwendungen im Maschinenbau der RWTH Aachen, Aachen 2014, S. 69–79.
  2. Berechnung von Kerben – Kerbspannung berechnen. In: www.maschinenbau-wissen.de. Abgerufen am 7. Februar 2016.