Nicolas Werth (2012)

Nicolas Werth (* 15. September 1950 in Paris) ist ein französischer Historiker, der als Spezialist für die Geschichte der Sowjetunion gilt. Er war Forschungsdirektor am Institut d’histoire du temps présent, das zum Centre national de la recherche scientifique (CNRS) gehört.

Leben

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Werths Vorfahren waren Deutschbalten aus Riga, die sich im 19. Jahrhundert in St. Petersburg niedergelassen hatten. Sein Großvater war nach der Oktoberrevolution 1917 nach Schottland geflohen. Sein Vater war der britische Journalist Alexander Werth, der sich während des Zweiten Weltkriegs als Korrespondent der BBC in der Sowjetunion aufgehalten hatte.[1][2]

Nach der Vorbereitungsklasse am Pariser Lycée Henri IV studierte Nicolas Werth ab 1970 an der École normale supérieure de Saint-Cloud. Nach einem Studienaufenthalt in Leningrad (1971/72) bestand er 1973 die Agrégation (Aufnahme in das höhere Lehramt) im Fach Geschichte.[3] Er war zwei Jahre Lektor am Fremdspracheninstitut in Minsk, wo er gleichzeitig Archivrecherchen für seine Dissertation machte, die er jedoch abbrach. Danach lehrte er an einem Collège in Frankreich und am französischen Lycée in New York City.[4] 1978/79 war er Gastwissenschaftler an der Columbia University in New York, von 1980 bis 1983 Lektor an der Universität Moskau. Während der Perestroika war Werth von 1985/86 bis 1989 Kulturattaché bei der französischen Botschaft in Moskau.[3]

Werth beschäftigt sich seit seinem ersten Buch (Être communiste en URSS sous Staline, Gallimard, 1981) mit der Geschichte der Sowjetunion. Er interessiert sich besonders für die Sozialgeschichte der Sowjetunion im Zeitraum von 1920 bis zum Beginn des Deutsch-Sowjetischen Krieges (1941). Hier interessiert ihn insbesondere das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, beispielsweise staatliche Übergriffe und gesellschaftlicher Widerstand. Ab 1989 arbeitete er als hauptberuflicher Forscher beim CNRS.

Werk

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

Werth betreibt seine Forschung unter anderem mit dem Ziel, die Spaltung der „totalitaristischen“ und der „revisionistischen“ Schulen zu überwinden, deren Kontroversen lange die Historiographie zur sowjetischen Geschichte prägten. Werth sieht sie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Öffnung der Archive als überholt an. Er bereicherte mit seinen Nachforschungen nicht nur die Erkenntnisse der westlichen Sowjetologie, sondern auch die Arbeit seiner russischen Kollegen (Russisch ist seine Muttersprache). Wegen seiner Verbundenheit mit der Sozialgeschichte, die „lange die arme Verwandte einer auf die Politik fixierten Sowjetologie“[5] war, sah er sich jedoch eher auf der Seite der „revisionistischen“ Historiker. Er erklärte im Widerspruch zu manchen anderen Historikern, die die totalitäre Kontrolle der sowjetischen Gesellschaft für effektiv hielten, dass die Berichte der politischen Polizei nur „die Verzerrung zwischen der gewollten Realität und der tatsächlichen Realität“[6] aufdecken.

Als Autor des Abschnitts im Schwarzbuch des Kommunismus, der sich der Russischen Sowjetrepublik und der UdSSR widmet, distanzierte er sich öffentlich von der Vorstellung, die Stéphane Courtois im Vorwort des Schwarzbuchs formulierte und die behauptete, der Kommunismus an sich rufe Verbrechen hervor. Er hat gleichermaßen falsche Zahlen[7] und „ein Abgleiten der reinen Politikgeschichte“ in dieser Veröffentlichung angeprangert.[8] 2006 veröffentlichte Werth eine Monographie über die Tragödie von Nasino (L’Île aux cannibales. 1933. Une déportation-abandon en Sibérie). Im Jahr 2009 veröffentlichte er eine Monographie zum Großen Terror (L’Ivrogne et la marchande de fleurs. Autopsie d’un meurtre de masse, 1937–1938).

Nicolas Werth nimmt seit 1997 am Seminar „Histoire soviétique: sources et méthodes“ (dt.: Sowjetische Geschichte: Quellen und Methoden) unter der Leitung von Wladimir Berelowitsch teil. Außerdem ist er Mitglied des Komitees der Redaktion der geschichtswissenschaftlichen Zeitschriften Vingtième Siècle. Revue d’histoire und Cahiers du monde russe.

Veröffentlichungen (Auswahl)

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Commons: Nicolas Werth – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
  1. Florent Georgesco: Nicolas Werth face aux spectres de l’URSS. In: Le Monde, 18. Januar 2020.
  2. Alexander Werth schrieb darüber das Buch „La Russie en guerre“ (Russland im Krieg). 2 Bände (Bd. 1: 1941–1942 la patrie en danger. Bd. 2: 1943–1945 de Stalingrad à Berlin.). Paris, Stock 1964.
  3. a b Véronique Sales: La patrie russe de Nicolas Werth. In: L’Histoire Nr. 254 (2001), S. 30–31.
  4. Nicolas Werth: Être communiste en U.R.S.S. sous Staline. 2. Auflage, Gallimard, 2017, Avant-propos.
  5. N. Werth: Une source inédite. 1994, S. 26.
  6. N. Werth: Une source inédite. 1994, S. 25.
  7. Le Monde, 14. November 1997.
  8. In einem Interview mit der Zeitung Le Monde, vom 21. September 2000, S. 32.
Personendaten
NAME Werth, Nicolas
KURZBESCHREIBUNG französischer Historiker
GEBURTSDATUM 15. September 1950
GEBURTSORT Paris