Oswald Wiener (* 5. Oktober 1935 in Wien; † 18. November 2021 in der Steiermark[1]) war ein österreichisch-kanadischer Schriftsteller, Kybernetiker, Sprachtheoretiker[2] und Gastronom.[3][4]

Leben

Wien 1935–1969

Oswald „Ossi“ Wiener studierte in den 1950er Jahren in Wien Rechtswissenschaft, Musikwissenschaft, afrikanische Sprachen und Mathematik (ohne Abschluss). Parallel zu seiner Tätigkeit als Autor im Rahmen der Wiener Gruppe von 1954 bis 1959 war er als professioneller Jazzmusiker tätig; eine der Bands, in der er Trompete spielte, war Walter Terharens Wirkliche Jazzband. Von 1958 bis 1966 arbeitete er, zum Schluss in leitender Position, für die Firma Olivetti im Bereich Datenverarbeitung.

1968 war er einer der Teilnehmer an der Aktion Kunst und Revolution („Uni-Ferkelei“) am 7. Juni an der Universität Wien, einem der Höhepunkte der Studentenbewegung 1968 in Österreich. Er wurde deswegen zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt.

Deutschland und Kanada 1969–2004

Nach seiner Flucht aus Wien 1969 – es drohte ihm in Österreich auch ein Verfahren wegen Gotteslästerung – lebte er als Gastwirt (Gaststätten „Exil“ und „Axbax“[5]) bis 1986 in Berlin.

Er studierte dort erneut von 1980 bis 1985 Mathematik und Informatik an der TU Berlin und schloss mit einer Promotion ab. Spätestens ab dieser Zeit bestand der Schwerpunkt seiner Arbeit in einer Synthese aus Kognitionswissenschaften und künstlerisch-philosophischer Literatur. Wie er selbst sagte, versuche er, „naturwissenschaftliche Denkweisen auf die Philosophie anzuwenden“.[6]

Oswald Wiener lebte in der Folge im kanadischen Dawson, wurde kanadischer Staatsbürger und zog später in die Marktgemeinde Birkfeld in der Steiermark. Ab 2012 lebte er bis zu seinem Tod in Kapfenstein in der Südoststeiermark.

Von 1992 bis 2004 war er Professor für Ästhetik an der Kunstakademie Düsseldorf.

Familie

Oswald Wiener war mit der Künstlerin Ingrid Wiener verheiratet. Einer früheren Ehe mit der Künstlerin Lore Heuermann entstammen drei Kinder. Eine Tochter ist Sarah Wiener, die als Fernsehköchin auftritt, mehrere Restaurationsbetriebe in Berlin geführt hat und 2019 ins Europaparlament gewählt wurde. Er wurde am Friedhof der Feuerhalle Simmering bestattet (Abt. 1, Ring 2, Gruppe 3, Nr. 45).[7]

Bewertungen

Oswald Wiener wird häufig als das theoretische Haupt der sogenannten „Wiener Gruppe“ (1954–1964) bezeichnet. Diese kann neben der Situationistischen Internationale und der „Independent Group“ zu den radikalsten Momenten der Moderne/Postmoderne in Europa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gerechnet werden.

Oswald Wiener übte Einfluss auf viele zeitgenössische Denker, Autoren und Künstler aus. Zu nennen wären hier unter anderem Reinhard Priessnitz, Elfriede Gerstl, Herbert J. Wimmer, Bodo Hell, Walter Grond, Peter Handke, Friederike Mayröcker, Werner Schwab, Franzobel, Marianne Fritz, Günter Brus, Werner Kofler und Thomas Raab.

Werke

Hauptwerk: „die verbesserung von mitteleuropa, roman“

Im Jahr 1958 vernichtete Oswald Wiener seine ab 1954 entstandenen „literarischen Versuche“.[8] In den 1960er Jahren erarbeitete er seinen grundlegenden und folgenreichen Prosatext „die verbesserung von mitteleuropa, roman“, der zunächst in Folgen in der österreichischen Literaturzeitschrift manuskripte erschien und schließlich als Buch (Rowohlt 1969, Neuausgabe 1985) veröffentlicht wurde. In der Auseinandersetzung u. a. mit Ludwig Wittgenstein setzt sich der Text in vielfältiger Weise mit der Allmacht der Sprache auseinander und inwiefern durch diese das Bewusstsein manipuliert wird; das Paradox dieser Auseinandersetzung ist, dass sie mit dem Mittel der Sprache geführt wird. Im Anhang *appendix A: der bio-adapter* entwirft Wiener das Konzept eines „Glücksanzugs“, einer Maschine, die zusehends Körper und Geist des darin Eingeschlossenen übernimmt – was man als einen frühen Entwurf des „Cyberspace“ betrachten kann. Des Weiteren basiert der Text auf Wieners Beschäftigung mit der theoretischen Kybernetik, insbesondere der numerischen Methode. Dieser Dekonstruktionsroman imitiert, ironisiert und zerstört das Genre „Roman des 19. Jahrhunderts“. Aus Ansätzen und Bruchstücken linguistischer (Stichwort „linguistic turn“ in den Kulturwissenschaften) und kybernetischer Denkexperimente entwickelt Wiener ein Modell des durch die Kybernetik bewusstseinsveränderten Menschen. Im Besonderen greift Wiener auch auf psychologische Experimentalmethoden des späten 19./frühen 20. Jahrhunderts, insbesondere der Selbstbeobachtung, zurück, wie sie der Behaviorismus gewissermaßen „verboten“ hatte, in der Absicht, damit bestimmte Aspekte der Funktionsweise der menschlichen Psyche zu verstehen. Damit hat Wiener einige sehr eigenständige Beiträge zum Thema Künstliche Intelligenz geliefert.

Texte

Tonträger

Fotografie

Ausstellungen der seinen Lebensbereich in Dawson dokumentierenden Fotografien von Oswald Wiener fanden auf Anregung von Peter Pakesch 2023 im Fotohof in Salzburg und in der Contemporary Fine Arts Galerie in Berlin statt. Dazu erschien die Fotobuch-Publikation:

Auszeichnungen

Literatur

Einzelnachweise

  1. Ronald Pohl: Autor Oswald Wiener gestorben. In: Der Standard. 18. November 2021, abgerufen am 18. November 2021.
  2. Professor Oswald Wiener: Schriftsteller, Kybernetiker, Sprachtheoretiker. (Memento vom 25. März 2016 im Internet Archive)
  3. Till Briegleb: Weltformelfinder. Nachruf auf Oswald Wiener. In: Süddeutsche Zeitung. 19. November 2021, abgerufen am 20. November 2021.
  4. Artikel über seine Tochter Sarah in der Welt vom 30. April 2008, abgerufen am 23. August 2013
  5. Friedrich Geyrhofer: Aus dem Leben eines Staatsfeindes, in: Wiener (Zeitschrift), Sonderdruck zu den Wiener Aktivisten, Mai 1981, S. 52.
  6. Oswald Wiener: Über Kunst, Selbstbeobachtung und Automatentheorie Ein Gespräch mit Stan Lafleur, Teil 2 in: Eckhard Hammel (Hrsg.): Synthetische Welten. Kunst, Künstlichkeit und Kommunikationsmedien, Essen: Verlag Die Blaue Eule, 1996, S. 199–213 (ISBN 3-89206-598-5)
  7. Oswald Wiener in der Verstorbenensuche bei friedhoefewien.at
  8. Oswald Wiener. Kurzbiographie, auf der Website von Horst Kurz.
  9. Adöa. In: Heinrich August Pierer, Julius Löbe (Hrsg.): Universal-Lexikon der Gegenwart und Vergangenheit. 4. Auflage. Band 1: A–Aufzwingen. Altenburg 1857, S. 139 (zeno.org – «Ädöologie» = die Lehre von den Geschlechtsteilen).
  10. Tiermusik: Team of Jeremy Roht, aufgenommen von Oswald Wiener und Helmut Schoener. Abgerufen am 18. November 2021.
  11. Falscher Auerhahn. Abgerufen am 13. Oktober 2019.
  12. Ronald Pohl: Anarchie als Ordnungsmacht. Autor Oswald Wiener erhält heute den "manuskripte"-Preis in Graz überreicht. In: Der Standard. 13. September 2006;.