Titelseite des Prager Tagblatt vom 29. Juli 1914, Morgenausgabe

Das Prager Tagblatt war eine deutschsprachige Tageszeitung, die von 1876 bis 1939 ununterbrochen in Prag erschien. Egon Erwin Kisch und Friedrich Torberg waren eine Zeitlang Redakteure der Zeitung, Torberg widmet dem Blatt auch ein Kapitel seines Buchs Die Tante Jolesch. Weitere berühmte Mitarbeiter waren Alfred Polgar, Roda Roda, Johannes Urzidil und Max Brod, der später den Roman Rebellische Herzen über seine Zeit beim Tagblatt schrieb. Joseph Roth und Sandor Marai etablierten sich hier als junge, talentierte Journalisten.

Geschichte

Das Prager Tagblatt war die größte liberal-demokratische deutschsprachige Tageszeitung Böhmens (bis 1918) und der Tschechoslowakei (von 1918 bis 1939) und galt zu seiner Zeit als eine der besten deutschsprachigen Tageszeitungen. Es erschien mehrmals täglich (montags in eingeschränktem Umfang), ab Ende des Ersten Weltkrieges 1918 erschien sie nur noch einmal täglich außer montags. Als Nachfolgerin sieht sich die 1991 gegründete, seit 2017 online erscheinende Prager Zeitung.

Gründung

Nach anfänglichen Verzögerungen 1876 kam im Dezember die regelmäßige Auslieferung des von Heinrich Mercy (Herausgeber) und Julius Gundling (verantwortlicher Redakteur) gegründeten Tagblattes in Gang. In den 1870er Jahren erschien es auf nur acht bis zehn kleinen Seiten einmal täglich, die Sonntagsbeilage gab es noch nicht, und nur wenige Mitarbeiter lieferten Berichte und Feuilletons. Doch der humoristische Ton des politischen Teils und die gute Berichterstattung ließen das Blatt schon in den ersten Monaten zu einem Überraschungserfolg werden. Verblüfft und stolz schrieb Mercy bereits am 1. April 1877: „Es ist dem Tagblatt geglückt, sich einen nach vielen Tausenden zählenden Lesekreis zu sichern, eine Verbreitung zu gewinnen, wie sie kein anderes Journal in so kurzer Zeit erzielt hat.“

Die Haltung des Blattes war zunächst „freisinnig“, d. h. liberal, und ausgesprochen bismarckfeindlich, allerdings lehnte es auch Sozialdemokratie und Katholizismus scharf ab. Es versuchte, nationale Aggression zu vermeiden und setzte sich für eine Verständigung mit den Tschechen ein.

Warten im Speisehaus, Prager Tagblatt vom 4. April 1912

Im Ersten Weltkrieg stimmte das Blatt zwar in den Tenor der allgemeinen Kriegspropaganda mit ein, fiel aber häufig mit kritischen Bemerkungen der Zensur zum Opfer und bemühte sich, auf das Leiden der Zivilbevölkerung aufmerksam zu machen. Der feuilletonistische Anteil ging zwar zurück, blieb aber qualitätsvoll (Artikel z. B. von Anton Kuh und Berthold Viertel).

Der Historiker Pavel Doležal bezeichnet die Zeitung denn auch als „deutschsprachiges Blatt mit übernationalem Geist“. Zwischen deutschem und tschechischem Nationalismus vertrat die Zeitung eine vermittelnd liberale Position.

Die Literarisierung des Prager Tagblatts

Zentrale des Prager Tagblatts im Palais Millesimo, Herrengasse (Pánská), Prager Neustadt

Aus heutiger Sicht besticht die Zeitung vor allem noch durch ihren sicheren Instinkt, Feuilleton-Talente betreffend. Unter dem jüdischen Theaterkritiker Heinrich Teweles als Chefredakteur entwickelte sich das Tageblatt seit der Jahrhundertwende zu einer Mischung aus gut arrangiertem europäischen Feuilleton-Digest (Star-Übersetzerin Hermynia zur Mühlen übertrug hier englischsprachige Texte) und eigenständiger Essay-Spitzenzeitung.

Das Prager Tagblatt stand mit seiner liberal-demokratischen Ausrichtung der neugegründeten Tschechoslowakischen Republik mit ihrem Präsidenten Tomáš Garrigue Masaryk loyal gegenüber.[1] Unter den günstigen politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen der Zwischenkriegszeit erreichte die Qualität der Zeitung einen absoluten Höhepunkt. Kaum eine Nummer der 1920er und 1930er Jahre erschien ohne mindestens ein glänzendes Feuilleton. Wer nicht direkt fürs Blatt gewonnen werden konnte, wurde nachgedruckt, besonders gern bekannte Autoren wie Kurt Tucholsky oder Robert Walser.

Legendär war die Sonntags-Ausgabe, die den besten und talentiertesten Feuilletonisten vorbehalten war und auch eine zwei- bis dreiseitige „Unterhaltungsbeilage“ brachte, in der fiktionale Prosa, Mode- und Buchbesprechungen ihren Platz hatten. Ab Mitte der 1920er Jahre gaben in der Beilage verstärkt Frauen den Ton an, unter anderem die junge Dinah Nelken.

War der Prozess der Literarisierung auch anderen Zeitungen der zwanziger Jahre anzumerken, fällt die allmähliche Verschiebung vom sachlichen Bericht zur literarischen Bearbeitung des Beobachteten hier besonders auf. Nicht zufällig hat Egon Erwin Kisch, der Erfinder der literarischen Reportage, in den frühen Zwanzigern die Zeitung stark beeinflusst. Sicher trug auch das Klima der Literaturstadt Prag zu dem seltsam novellistisch-ironischen Tonfall der Zeitung bei, der spätestens ab 1925 auch auf die prosaischen Rubriken übergreift. Der vermischte Teil wird durch oft anonyme Glossen ergänzt oder mit Kürzeln gezeichnet, Lokalnachrichten waren mit sonderbaren Aphorismen durchsetzt oder wurden zu kleinen Prosaskizzen umgeformt. Außerdem werden ausländische Reportagen von gefährlichen Expeditionen oder unterhaltsamen Reisen als Fortsetzung in den Politikteil geschaltet. Großen Einfluss auf diese Entwicklung dürfte der Satiriker und Essayist Robert Scheu gehabt haben, von dem wohl viele der anonymen Artikel stammen. Einige besonders gelungene davon zeichnet er immerhin mit seinem Nachnamen.

Gerühmt wurde von den Zeitgenossen auch die Musikkritik im Prager Tagblatt, von renommierten Literaturexperten wurde sie mit den Theaterkritiken der Weltbühne verglichen.

Zufluchtsort für Exilschriftsteller und Ende

Ab 1933 wurde das Blatt (als eine der wenigen nicht unmittelbar vom Nationalsozialismus bedrohten deutschsprachigen Zeitungen von Weltformat) ein Publikationsorgan für emigrierte oder verfolgte deutsche Schriftsteller. Berühmte Autoren wie Gabriele Tergit und Ossip Kalenter schrieben nun verstärkt für die Zeitung.

Unmittelbar nach dem Einmarsch und der Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren durch Nazideutschland wurde das Erscheinen des Prager Tagblatts eingestellt. Die letzte Nummer erschien am 4. April 1939, bereits am Folgetag nahm Der Neue Tag als nationalsozialistisch linientreue Zeitung den Betrieb in den Räumlichkeiten des Prager Tagblatts auf.[1]

Feuilletonistische Rubriken

Wochentag

Sonntagsausgabe

Obige Rubriken gab es auch am Sonntag, doch bemühte man sich, einige Feuilletons mehr als in der Woche ohne spezielle Rubrizierung in der Zeitung verstreut unterzubringen. Hinzu kamen

Außerdem gab es später eine weitere sogenannte Unterhaltungsbeilage (ab Januar 1919 wieder voll intakt) mit folgenden Inhalten:

Das Prager Tagblatt als historische Quelle

Das Prager Tagblatt nimmt eine besondere Stellung ein. Ursprünglich mit der Aufgabe betraut, die Deutschböhmen bzw. Sudetendeutschen gleichwertig über die Tschechoslowakei, Deutschland und Österreich zu informieren, bietet es nicht nur einen Panoramablick auf alle drei Länder, sondern die Autoren greifen auch auf mehr Basisfakten als die Mitarbeiter anderer zeitgenössischer Blätter zurück, was das Verständnis für Zusammenhänge bei der heutigen Lektüre erleichtert. Außerdem konnte die Zeitung wegen ihres Standorts im liberalen Prag auch kritische Berichte drucken, ohne die Zensur der einzelnen Länder allzu sehr fürchten zu müssen.

Nicht zuletzt verfügte das Prager Tagblatt über exzellente Reporter; kaum eine andere deutschsprachige Zeitung war so nahe am Geschehen des Ersten Weltkriegs und konnte später nach 1933 noch lange unabhängig auf Deutsch über den Nationalsozialismus berichten. Hervorzuheben sind die Berichte von Wilhelm Scheuermann von der Westfront ab 1914, die Deutschland-Reportagen von Eugen Szatmari aus den frühen 1920er Jahren und die vielen anonymen Stimmungsberichte von den Brennpunkten des Weltgeschehens seit den 1890er Jahren bis zum Ende der Zeitung 1938.

Max Brod über das Prager Tagblatt

„Es war eine Irrlichter-Plantage. Jene großen Zeitungen in Paris etc. hielten auf Fassade. Im Prager Tagblatt lehnte man alles ab, was ans Fassadenhaft-Imposante oder Tierisch-Ernste (so nannte man es hier) auch nur von fern erinnerte. Das Prager Tagblatt wurde nach ganz anderm Prinzip redigiert. Es war ein europäisches Kuriosum, als solches in Berufskreisen und weit über sie hinaus bekannt. Eine Sehenswürdigkeit, die nirgends ihresgleichen hatte.[…] Es war ein ausgezeichnet informierendes, verlässlich gemachtes Blatt, gescheit und temperamentvoll, freiheitlich, ohne grade Sturmglocken zu läuten, farbig-interessant, in einigen Beiträgen von gutem literarischen Niveau und fast ohne Kitsch. Jeder, der daran mitarbeitete, setzte seinen Ehrgeiz daran, seine Sache möglichst perfekt zu leisten, knapp, ohne Phrasen, mit Einsatz aller Nerven. Aber dabei gab man sich den Anschein, als ob alles mühelos, nur wie zum Spaß vor sich ginge.“ (Aus Rebellische Herzen.)

Siehe auch die Neuausgabe unter dem Titel Prager Tagblatt. Roman einer Redaktion. Fischer, Berlin 1968:

Mitarbeiter und oft gedruckte Autoren

Als im Jahr 1919 Ernst Feigl in die Redaktion eintrat und für die Zeitung insbesondere als Gerichtsreporter wirkte, arbeiteten neben dem Chefredakteur Sigmund Blau unter anderen der Theaterkritiker Ludwig Steiner, der Sportreporter Siegfried Raabe-Jenkins und der Redakteur Rudolf Keller.[2]

Erich Auerbach (Fotograf), Hans Bauer, Benjamin M. Bloch, Alfred Döblin, Martin Feuchtwanger, Egon Friedell, Rudolf Fuchs, Stefan Großmann, Julius Gundling, Hans Habe,[3] Arnold Hahn, Jaroslav Hašek, Arnold Höllriegel, Elisabeth Janstein, Siegfried Jacobsohn, Franz Kafka, Theodor Lessing, Paul Leppin, Michal Mareš, Ferenc Molnár, Hans Natonek, Vítězslav Nezval, Leo Perutz, Karel Poláček, Heinrich Rauchberg, A. Walther Rittrich, Walther Rode, Alice Rühle-Gerstel, Paul Schlesinger, Walter Seidl, Gisela Selden-Goth, Hans Siemsen, Friedrich Torberg, Robert Walser, Oskar Wiener.

Redaktionen, mit denen Artikel getauscht wurden

Trivia

Bereits 1913 erschien eine geradezu prophetische Kurzgeschichte von Gustav Hochstetter über die Mobiltelefonie. Ein Firmenchef soll auf ärztlichen Rat durch Wandern in Schweigsamkeit wieder Kraft tanken, da hört er in der Abgeschiedenheit der Berge plötzlich etwas aus seinem Rucksack – seine Frau ruft ihn an: „Ja, ja, Ludwig, da staunst du? Eine Menge Geld hat das Ding gekostet. Eine ganz neue Erfindung: das tragbare, drahtlose Telephon in Miniaturformat.“[4]

Literatur

Einzelnachweise

  1. a b Weihnachten im Prager Tagblatt Radio Praha am 24. Dezember 2018
  2. Dieter Sudhoff: Der Fliegenprinz von Arkadien. Notizen zum Leben und Schreiben des Prager Dichters Ernst Feigl, in: Hartmut Binder (Hrsg.): Prager Profile : vergessene Autoren im Schatten Kafkas. Berlin : Mann 1991 S. 345
  3. Joseph Strelka: Hans Habe. Autor der Menschlichkeit. Tübingen 2017, ISBN 978-3-7720-8612-0, S. 11.
  4. Gustav Hochstetter: Schweigend wandern. In: Prager Tagblatt vom 17. August 1913, Seite 3. Siehe ANNO.ONB, zuletzt aufgerufen am 10. Dezember 2013