Langhaus der Mnong im Zentralen Hochland (Vietnam 2000)

Residenzregeln (von lateinisch residere „sich niederlassen“), Wohnsitzregeln oder Wohnfolgeordnungen bezeichnen in der Ethnosoziologie diejenigen sozialen Normen, die festlegen, wo ein Ehepaar nach der Heirat seinen Wohnsitz einrichtet, ob und welcher Ehepartner den Wohnort wechseln muss und wohin er zieht. In einer ethnischen Gesellschaft bestimmt die Wohnsitzregel zusammen mit den geltenden Abstammungs- und Heiratsregeln die Verwandtschaftsbeziehungen und Gruppenzugehörigkeiten, beispielsweise zu welchem Haushalt Kinder von Ehepaaren gerechnet werden.

Demgegenüber bezeichnet Residenzmuster die statistische Erfassung dessen, was Ehepaare tatsächlich tun – das kann von ihrer gewohnten Residenzregel abweichen; viele Paare aus traditionellen Ethnien gründen in modernen Städten eigene neue Haushalte (neolokal), obwohl ihre Tradition eine andere Wohnfolgeregel vorgibt.

Eheliche Wohnfolge

Konstruktion eines Baumhauses in Papua-Neuguinea (Milne-Bucht, 1885)

Bei den weltweit 1300 erfassten ethnischen Gruppen und indigenen Völkern[1] finden sich vier Gruppen von Residenzregeln, unterschieden danach, wo ein Ehepaar nach seiner Heirat den ehelichen Wohnsitz einrichtet:

Wohnsitz beim Mann

Wohnsitz bei der Frau

Langhaus der matrilinearen Irokesen, Unterkunft für rund 500 Personen (USA 1885)

Wohnsitz wählbar

Wohnsitz unverändert

Verhältnis von Residenz und unilinearer Deszendenz

Langhaus der Ê Ðê im Zentralen Hochland (Vietnam 2006)

Auswertungen der Datensätze von rund 1200 Ethnien des Ethnographischen Atlas[1] ergaben folgende Verteilungswerte der Wohnfolgeregeln (Residenz) bei Gesellschaften mit einer patri-linearen oder matri-linearen Abstammungsregel (Deszendenz):[10][11]

Deutlich wird, dass nach der Väterlinie organisierte Völker den ehelichen Wohnsitz fast ausschließlich beim Mann einrichten, während sich bei matrilinearen Völkern alle Möglichkeiten der Residenzwahl finden lassen.[12]

Bezogen auf alle Ethnien weltweit:

Ein praktisches Beispiel verdeutlicht Unterschiede (siehe auch das Moiety-Dualsystem):

Das kleine Volk der Ngaing in Papua-Neuguinea folgt einer doppelten, bilinearen Abstammungsregel: In einem Dorf haben die patrilinearen Abstammungsgruppen (Patri-Lineages) eine Tiefe von 3 bis 5 Generationen und bilden Patri-Clans, welche die Grundeinheit der Siedlung ausmachen. Über sie werden die Regeln der Exogamie (wichtig für Heiraten), Landrechte (wichtig für Gartenbau und Jagd) und Ritualrechte (wichtig für Männerkult-Zeremonien) weitergegeben und vererbt. Ähnlich organisiert sind die parallel zu den Männern berechtigten matrilinearen Abstammungsgruppen (Matri-Lineages), die das Totem-Recht auf sich vereinen. Die Gruppen leben im Siedlungsgebiet verstreut, denn sie befolgen die eheliche Wohnfolgeregel der Patri-Lokalität: Der Wohnsitz eines verheirateten Paares wird beim Ehemann eingerichtet, der bei seinem Vater wohnt. Versammlungen zu gemeinsamen Aktivitäten finden nicht statt.

Siehe auch

Literatur

Einzelnachweise

  1. a b Ende 2012 waren im Ethnographic Atlas weltweit genau 1300 Ethnien erfasst, von denen oft nur Stichproben ausgewertet wurden, beispielsweise im internationalen HRAF-Projekt. Begründet wurde der Ethnographic Atlas Anfang der 1950er vom US-amerikanischen Anthropologen George P. Murdock (1897–1985) zur standardisierten Daten-Erfassung sämtlicher Ethnien weltweit.
  2. Gabriele Rasuly-Paleczek: ad. Neolokal. (PDF; 705 kB) In: Einführung in die Ethnosoziologie. Teil 2/2, Universität Wien, 2006, S. 230–231, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 1. Oktober 2008; abgerufen am 13. März 2020: „neolokal: wörtlich »neuer Ort«. Neolokalität: Das neu verheiratete Paar zieht an einen Ort, der weder durch die Verwandten des Ehemannes noch durch die der Ehefrau vorgegeben ist, sondern gründet einen eigenen unabhängigen Hausstand. (vgl. SCHMITZ 1964:110, VIVELO 1981: S. 233 und BARGATZKY 1985: S. 61) Definition von neolokal nach BARNARD/SPENCER: »neolocal: Marriage involving a new place of residence. Neolocality involves a couple moving to a place which is the previous home of neither party.[«] (BARNARD/SPENCER 1997: S. 615) Ein neolokales Residenzmuster herrscht in unserer Gesellschaft vor (vgl. HARRIS 1971: S. 321), sowie in vielen außereuropäischen Gesellschaften infolge der Migration.“
  3. Lukas, Schindler, Stockinger: neolokale Residenz. In: Interaktives Online-Glossar: Ehe, Heirat und Familie. Universität Wien, 1997, abgerufen am 13. März 2020: „neolokale Residenz, Definition: Die Aufnahme der postnuptialen Residenz an einem Ort, der werder mit dem Geburts- bzw. Herkunftsort des Ehemannes noch der der Ehefrau ident ist. Das Paar wählt daher nach der Heirat einen neuen, von den Eltern beider Ehegatten unabhängigen Wohnsitz. Diese Residenzpraxis führt zur Auflösung jeder potentiellen unilinearen Verwandtschaftsgruppe.“
  4. Hans-Rudolf Wicker: Leitfaden für die Einführungsvorlesung in Sozialanthropologie, 1995–2012. (PDF: 387 kB, 47 S.) Institut für Sozialanthropologie, Universität Bern, 31. Juli 2012, S. 30/31; Zitat: „Mit den Daten des HRAF konnte Murdock folgende Übergänge belegen: […] – Übergänge von Neo- zu Bilokalität wurden festgestellt; – Der Übergang von Unilokalität in Verbindung mit unilinearer Abstammung zu Neolokalität ist belegt. Ein solcher Wandel führt oft zum Zerfall von Clan- und Lineage-Systemen; – Der Übergang von Neo- und Bilokalität zu Matri- und Patrilokalität wurde ebenfalls beobachtet“.
  5. a b Dieter Steiner: Begriffsvokabular der Residenz- und Deszendenzregeln. In: Soziales im engeren Sinne. Eigene Homepage, Zürich, 1998, abgerufen am 13. März 2020 (emeritierter Professor für Humanökologie).
  6. Lukas, Schindler, Stockinger: Ambilokale Residenz. In: Interaktives Online-Glossar: Ehe, Heirat und Familie. Universität Wien, 1997, abgerufen am 13. März 2020.
  7. Die Besuchsehe dokumentieren Uschi Madeisky, Klaus Werner: Wo dem Gatten nur die Nacht gehört. Besuchsehe bei den Jaintia in Indien. Colorama Film für Norddeutscher Rundfunk (NDR), Deutschland 1999 (60 Minuten; Info).
  8. Lukas, Schindler, Stockinger: Natolokale Residenz. In: Interaktives Online-Glossar: Ehe, Heirat und Familie. Universität Wien, 1997, abgerufen am 13. März 2020.
  9. Lukas, Schindler, Stockinger: Sambandham. In: Interaktives Online-Glossar: Ehe, Heirat und Familie. Universität Wien, 1997, abgerufen am 13. März 2020.
  10. J. Patrick Gray: Ethnographic Atlas Codebook. In: World Cultures. Band 10, Nr. 1, 1998, S. 86–136, hier S. 104: Tabelle 43 Descent: Major Type (englisch; PDF: 2,4 MB, 52 Seiten ohne Seitenzahlen; eine der wenigen Auswertungen aller damaligen 1267 Ethnien); Zitat: „584 Patrilineal […] 160 Matrilineal“ (46,1 % patrilinear; 12,6 % matrilinear).
  11. Hans-Rudolf Wicker: Leitfaden für die Einführungsvorlesung in Sozialanthropologie, 1995–2012. (PDF: 387 kB, 47 S.) Institut für Sozialanthropologie, Universität Bern, 31. Juli 2012, S. 13/14 (Tabelle: Verhältnis zwischen Deszendenz und postmaritaler Residenz).
    Die Zahlen auf S. 13/14:
    589 patrilineare Ethnien – ihr Wohnsitz nach der Heirat (Residenzregel):
    000563 (95,6 %) wohnen viri/patri-lokal beim Ehemann oder seinem Vater
    000001 0(0,2 %) wohnt uxori/matri-lokal bei der Ehefrau oder ihrer Mutter
    000025 0(4,2 %) haben andere Wohnsitzregeln: neolokal, natolokal u. a.
    164 matrilineare Ethnien – ihr ehelicher Wohnsitz nach der Heirat:
    000062 (37,8 %) wohnen avunkulokal beim Mutterbruder des Ehemannes oder Mutterbruder der Ehefrau
    000053 (32,3 %) wohnen uxori/matri-lokal bei der Ehefrau oder ihrer Mutter
    000030 (18,3 %) wohnen viri/patri-lokal beim Ehemann oder seinem Vater
    000019 (11,6 %) haben andere Wohnsitzregeln: neolokal, natolokal u. a.
  12. Robin Fox: Kinship and Marriage. An Anthropological Perspective. Cambridge University Press, Cambridge 1967, ISBN 0-521-27823-6, S. 115 (englisch; Seitenvorschau in der Google-Buchsuche).