Dies ist eine Übersicht über die während des russischen Überfalls auf die Ukraine stattgefundenen Friedens- und Waffenstillstandsverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine, die in direkten und indirekten Gesprächsformaten abgehalten wurden. Die unter fortgesetzten russischen Angriffen erfolgten Friedensverhandlungen erzielten bis April 2022 keine tragfähigen Ergebnisse und wurden danach nicht wieder aufgenommen.
Mit dem Zerfall der Sowjetunion unterzeichneten die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik und die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik am 19. November 1990 einen Freundschaftsvertrag, in dem die existierenden Grenzen gegenseitig anerkannt wurden. Am 23. Juni 1992 wurde der Vertrag von der unabhängigen Russischen Föderation und der unabhängigen Ukraine bestätigt, 1997 folgte der russisch-ukrainische Freundschaftsvertrag und 2003 der Grenzvertrag, in denen jeweils die staatliche Integrität und Souveränität in den bestehenden Grenzen gegenseitig anerkannt wurden.[1]
Der später als russisch-ukrainischer Krieg bezeichnete militärische Konflikt begann mit der russischen Annexion der Krim 2014 und der russischen Unterstützung von Separatisten im Krieg im Donbas.
Die Ukraine sieht sich seit März 2014 durch einen völkerrechtswidrigen russischen Angriff betroffen. Annexion der Krim und der Krieg im Donbas seit 2014 sind für sie untrennbare Teile dieses Krieges, an dessen Ende die vollständige Wiederherstellung der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine stehen müsse. Wolodymyr Selenskyj forderte seit seiner Wahl 2019 Wladimir Putin immer wieder zu einem Gipfeltreffen auf.[2]
Trotz der umstrittenen russischen Unterstützung der Separatisten im Donbas kam es im Zuge des Minsker Prozesses zu den brüchigen Waffenstillstandsabkommen (Protokoll von Minsk und Minsk II).[3] Darin sind die Modalitäten für einen dauerhaften Waffenstillstand und die Reintegration der umstrittenen Territorien (Luhansk und Donezk) in die Ukraine festgelegt worden.[4]
Von 2018 bis 2020 wurden im Durchschnitt alle drei Monate neue brüchige Waffenstillstandsvereinbarungen durch die trinationale Kontaktgruppe für die Ukraine bestehend aus Russland, Ukraine und OSZE getroffen:[5]
Auf dem Ukraine-Gipfel in Paris am 9. Dezember 2019 einigten sich durch Vermittlung von Macron und Merkel, die beiden Präsidenten Putin und Selenskyj auf einen vollständigen Waffenstillstand und Gefangenenaustausch für die Ostukraine.[6]
Noch im Dezember 2021 verkündete die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), dass Russland und die Ukraine zugestimmt hätten, die Waffenstillstandsvereinbarung vom 22. Juli 2020[7] wieder einzuhalten.[8]
Russland zog ab April 2021 auf der besetzten Krim und an den Grenzen der Ukraine zu Russland und Belarus Truppen zusammen. Am 17. Dezember 2021 veröffentlichte das russische Außenministerium zwei „Vertragsentwürfe über Sicherheitsgarantien“, gerichtet an die NATO[9] und die USA[10]. Darin forderte Russland, die gegenseitigen „Sicherheitsinteressen“ zu wahren sowie die Osterweiterung der NATO zu stoppen und in Teilen rückgängig zu machen, indem ehemaligen Ländern der Sowjetunion der Beitritt verwehrt wird, keine Militärbasen oder Kriegsgeräte in Länder gebracht werden, die in Reichweite der anderen Partei liegen, und keine NATO-Truppen mehr in Ländern stationiert werden, die 1997 noch nicht zum Verteidigungsbündnis gehörten. Letzteres würde Polen, die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, Rumänien, Bulgarien, Ungarn, Tschechien und die Slowakei betreffen. Ebenso dürfte die Nato keine Soldaten nach Albanien und auf das Gebiet des früheren Jugoslawien entsenden.[11][12] Nach der Politikwissenschaftlerin Sabine Fischer verschärfte Russland damit seine aggressive und imperialistische Rhetorik und forderte die Aufteilung Europas in eine amerikanische und eine russische Einflusszone.[2]
Die Kernforderung Russlands bezeichneten die USA als „inakzeptabel“[13] und boten an, über die Art und die Orte der NATO-Präsenz an der Ostgrenze zu verhandeln.[14] Am 12. Januar 2022 trat der NATO-Russland-Rat nach zweijähriger Pause zusammen, konnte jedoch keine Einigung zwischen NATO und Russland erzielen.[15]
Die Vereinigten Staaten übermittelten schriftliche Antworten auf Russlands Forderungen im Januar 2022, verbunden mit kontinuierlichen Dialogangeboten an Moskau.[16] Im Tenor der Antworten wurden keine verbindlichen Zusagen für ein Ende der NATO-Erweiterung gemacht und herausgestellt, dass jeder Staat über die Souveränität und Integrität verfüge über seine Bündniszugehörigkeit selbst zu entscheiden.[17]
Ein von der Zeitung El País geleaktes Antwortschreiben der NATO an Russland signalisierte die Bereitschaft, „eine dauerhafte Stationierung von Kampftruppen und bodengestützten Raketensystemen in der Ukraine auszuschließen, wenn Moskau auch entsprechende Verpflichtungen eingeht.“[18]
Dennoch überfiel Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine.
In einer emotionalen Rede am 24. Februar 2022 gab Putin für den Angriff auf die Ukraine, den er als „Militäroperation“ bezeichnete, folgende Motive an:[19]
Vermutlich ließ Putin aus taktischen Gründen die genauen Ziele weitestgehend im Unklaren. Besonders umstritten ist, ob er einen kompletten Machtwechsel in Kiew anstrebte oder vor allem die Gebiete im Osten und Süden beanspruchte.
Laut Reuters gab es möglicherweise vor oder kurz nach Ausbruch des Krieges Ende Februar 2022 einen Vertragsentwurf, der zur Abwendung bzw. Beendigung des Krieges einen Verzicht der Ukraine auf eine Mitgliedschaft in der NATO vorsah, allerdings ohne nachprüfbare Quellen zu nennen[23]. Diese möglicherweise unter Beteiligung von Dmitri Kosak ausgehandelte mögliche Vereinbarung mit der ukrainischen Regierung sei laut Reuters von Putin abgelehnt worden.[24] Mychajlo Podoljak, ukrainischer Teilnehmer an den Verhandlungen mit Russland sagte, die Russische Föderation habe mit den Verhandlungen die Vorbereitung der Invasion vertuscht. Podolyak antwortete nicht auf Fragen von Reuters zum Inhalt der Gespräche und bestätigte nicht, dass ein Vertragsentwurf erzielt worden war. „Heute [Oktober 2022] verstehen wir klar, dass die russische Seite nie an einer friedlichen Lösung interessiert war“, so Podoljak.[25]
Als Kriegsziel gab Putin an, die Menschen schützen zu wollen, die „seit acht Jahren Misshandlung und Genozid ausgesetzt“ wären.[26] Russland würde „die Souveränität aller neu entstandenen Länder im post-sowjetischen Raum“ respektieren, behauptete er.[27]
Die russische Delegation wurde von dem Historiker und ehemaligen russischen Kulturminister Wladimir Medinski geleitet, der jedoch von manchen Beobachtern als Zeichen dafür gesehen wurde, dass der Kreml die Verhandlungen nicht wirklich ernst nahm.[28] Der Delegation gehörten auch der stellvertretende russische Außenminister Andrei Rudenko, der russische Botschafter in Belarus Boris Gryslow, der Vorsitzende des internationalen Komitees der Staatsduma Leonid Sluzki und der stellvertretende Verteidigungsminister Alexander Fomin an.
Der ukrainischen Delegation gehörten an: Verteidigungsminister Oleksij Resnikow, Dawyd Arachamija (Vorsitzender der Fraktion Sluha narodu in der Werchowna Rada) und der Berater des Leiters des Präsidialamtes Mychajlo Podoljak.[29]
Seit dem 25. Februar gab es in der ukrainischen Regierung in Kiew Gespräche über die möglichen ukrainisch-russischen Verhandlungen, bis Russland die Forderung erhob, dass die ukrainischen Streitkräfte die Waffen strecken sollen. Darüber hinaus war die ukrainische Seite gegen das Treffen auf dem Territorium der Republik Belarus. Für die ukrainische Seite war Belarus kein neutraler Ort und für deren Delegation durchaus mit Risiken verbunden.[30]
Dennoch kam die russische Delegation unter Wladimir Medinski am 27. Februar morgens im belarussischen Homel an. Nachdem es zu keinem Treffen mit den Vertretern der Ukraine gekommen war, erklärten die Vertreter der Russischen Föderation, dass die Ukraine die geplanten Verhandlungen sabotiert habe.
Serhij Nykyforow, der Pressesprecher des Präsidialamtes der Ukraine, teilte mit:[31]
„Die Stellung der Ukraine bleibt unverändert. Wir sind bereit, an jedem neutralen Ort zu treffen: Baku, Istanbul, Warschau, Wien… Diese Liste kann man weiter ergänzen. Nach wie vor laden wir Russland ein, sich mit an den Verhandlungstisch zu setzen und das Leben seiner Soldaten zu retten.“
Im Zuge des Gesprächs zwischen dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und dem Präsidenten von Belarus Aljaksandr Lukaschenka am 27. Februar 2022 wurde entschieden, dass die ukrainische und die russische Delegation sich ohne vorherige Bedingungen an der Grenze zu Belarus am Fluss Prypjat treffen. Lukaschenko übernahm die Verantwortung dafür, dass während der Verhandlungen alle Flugzeuge, Hubschrauber und Raketen, die auf dem Territorium von Belarus stationiert sind, auf dem Boden bleiben.[32]
Die russische Delegation verlangte eine bedingungslose Kapitulation. Die russischen Forderungen umfassten die Einsetzung einer Russland-freundlichen Regierung, die Festnahme und Verurteilung von „Nazis“, die Wiedereinführung von russisch als offizieller Amtssprache, die russische Kontrolle über die Außenpolitik der Ukraine, die Übergabe aller Panzer und der Artillerie an Russland, sowie eine Obergrenze von 50.000 Mann für die ukrainische Armee. Der stellvertretende Verteidigungsminister Alexander Fomin, Mitglied der russischen Delegation, drohte, dass sie die Ukrainer „weiterhin töten und abschlachten“ würden, falls sie die Bedingungen nicht annehmen würden.[33]
In der zweiten Runde der Verhandlungen am 3. März wurden drei Hauptfragen besprochen: militärische, humanitäre und die Frage der zukünftigen politischen Regulierung des Konfliktes. Man konnte jedoch nur das Format humanitärer Korridore für die Evakuierung ziviler Bevölkerung und die mögliche vorübergehende Waffenruhe in diesen Sektoren aushandeln. Gemeinsame Sicherung humanitärer Korridore soll der Evakuierung von Zivilisten sowie der Lieferung von Medikamenten und Lebensmitteln in die am heftigsten umkämpften Orte dienen, dafür werden die Kampfhandlungen in diesen Städten und Dörfern vorübergehend eingestellt.[34]
Außerdem wurde beschlossen, eine dritte Runde der Verhandlungen in den nächsten Tagen durchzuführen, um die Vereinbarungen, die man heute nicht bekannt geben wollte, auszuführen.[35]
Auf Initiative der ukrainischen Seite fand die dritte Runde der Verhandlungen am 7. März 2022 statt.[36][37] Man konnte die Verbesserung der Logistik für humanitäre Korridore aushandeln.[38]
Das bisher hochrangigste Treffen in den Friedensverhandlungen erfolgte am 10. März 2022 im türkischen Ort Antalya zwischen dem russischen Außenminister Sergei Lawrow und seinem ukrainischen Amtskollegen Dmytro Kuleba sowie dem türkischen Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu als Vermittler. Doch die Ukraine scheiterte mit ihren Forderungen nach einem 24-stündigen Waffenstillstand zur Rettung der Menschen in Mariupol.[39][40]
Erstmals per Video wurde am 14. März eine vierte Verhandlungsrunde gestartet[41] und am Tag darauf fortgeführt.[42] Medien verlauteten am 16. März, dass die Ukraine feste Sicherheitsgarantien forderte und dass Russland eine Neutralität des Nachbarlandes „nach österreichischem oder schwedischem Vorbild“ für möglich halte. Schlüsselfragen seien weiterhin der Status der Krim und der Status der pro-russischen Separatistengebiete in der Ostukraine.[43] (Zu völkerrechtlichen Vereinbarungen zur Neutralität siehe auch: Dauernde Neutralität.)
Während die Unterhändler über konkrete Pläne für einen neutralen Status der Ukraine verhandelten, gingen Truppenbewegungen und der Beschuss von Städten, darunter Kiew und Mariupol, weiter. Der amerikanische Sicherheitsberater Jake Sullivan warnte nach Angaben des Weißen Hauses den Sekretär des russischen Sicherheitsrats, Nikolai Patruschew, vor dem Einsatz biologischer und chemischer Waffen.[44]
Im Dolmabahçe-Palast in Istanbul begannen am 29. März 2022 erstmals wieder Verhandlungen im direkten Kontakt. Roman Abramowitsch soll Mediator gewesen sein.[45]
Die Ukraine brachte unter ihrem Verhandlungsführer Dawyd Arachamija unter anderem den Verzicht auf einen NATO-Beitritt als Option ein, es war jedoch unklar, wie belastbare Sicherheitsgarantien aussehen könnten, nachdem das Budapester Abkommen von 1994 die Annexion der Krim nicht verhindert hatte. Die weiteren Verhandlungen in der Türkei zeigten (Stand August 2022) keinen ernsthaften politischen Willen Russlands, über eine Neutralität der Ukraine zu verhandeln.[30]
Ein Waffenstillstandsentwurf der Ukraine vom 29. März umfasste[46]
Das Zustandekommen dieses Waffenstillstandes hing demnach nicht nur davon ab, ob der Kreml zustimmt, sondern auch, ob andere relevante Staaten sich bereit erklären, Sicherheitsgarantien zu geben und, wie Selenskyj immer wieder betont, ob die Bevölkerung ein derartiges Friedensabkommen in einer Volksabstimmung annehmen würde.[48] Denn die NATO-Neutralität bedarf in der Ukraine einer Verfassungsänderung.
Nachdem Russland bisher sämtliche Grenzverträge gebrochen hatte, bestand die Ukraine auf einer Sicherheitsgarantie ähnlich dem Artikel 5 des NATO-Vertrags. Zu einer derartigen Zusage waren jedoch weder die Vereinigten Staaten noch andere westliche Staaten bereit.[49]
Nach Angaben des Präsidentenberaters Michailo Podoljak habe die Ukraine angeboten, die Krim aus den Gesprächen auszuklammern und eine Lösung in persönlichen Gesprächen zwischen Selenskyj und Putin zu erzielen. Der Vorschlag habe einen Leasingvertrag über die Krim mit einer Laufzeit von 100 Jahren vorgesehen. Putin habe jedoch ein Treffen mit Selenskyj kategorisch abgelehnt.[49] In einem Telefonat mit Mario Draghi erklärte er, dass die Zeit noch nicht reif sei für eine Waffenruhe oder ein Treffen mit Selenskyj.[50]
Laut Beobachtern hätte dieser Vorschlag Putin einen gesichtswahrenden Ausstieg aus dem Krieg erlaubt.[51] Barbara Woodward, Ständige Vertreterin des Vereinigten Königreichs bei der UNO, signalisierte die Bereitschaft von Großbritannien, einer der Sicherheitsgaranten der Ukraine zu werden.[52] Der russische Verhandlungsführer Medinski reagierte positiv auf die ukrainischen Vorschläge und nannte sie „einen konstruktiven Schritt“,[28] wofür er von radikalen und politischen Kräften wie Ramsan Kadyrow in der russischen Propaganda scharf angegangen wurde. Russland sagte zu, seine Truppen nördlich von Kiew zu reduzieren[47] (um sich stattdessen auf die „Befreiung“ des Donbas zu konzentrieren[53]). Emmanuel Macron forderte in einem Telefonat Putin auf, dem Waffenstillstand und der Evakuierung von Mariupol zuzustimmen. Joe Biden, Olaf Scholz und andere westliche Politiker zeigten sich skeptisch, ob Putin dem auch zustimmen würde und warnten vor neuen Offensiven.[48] Die britische Regierung lehnte eine Lockerung der Sanktionen gegen Russland ab, selbst wenn es ein Waffenstillstand gäbe, sofern nicht alle Truppen abgezogen würden. Selenskyj forderte, ebenfalls am 29. März, härtere Sanktionen gegen Russland. Russland drohte im Gegenzug mit einem Lieferstopp von Gas, wenn die EU-Staaten nicht in Rubel bezahlten, gleichzeitig zerstreute der Kremlsprecher Dmitri Peskow Befürchtungen vor dem Einsatz einer Atombombe mit den Worten: „Niemand in Russland denkt an den Einsatz oder auch nur an die Idee eines Einsatzes von Atomwaffen“.[47]
Wenige Tage später wurde ab dem 2. April das Massaker von Butscha sichtbar. Danach erklärte Selenskyj es für „schwierig“, die Gespräche weiterzuführen[54]. Am 3. April dämpfte Medinski anfängliche Hoffnungen mit der Aussage, Russlands Haltung zum Donbas und zur Krim sei unverhandelbar und Gespräche zwischen den Präsidenten seien nicht möglich.[55] Am 7. April bestätigte auch Außenminister Lawrow, dass der ukrainische Friedensvorschlag nicht akzeptable Elemente enthielt,[56] was sich vermutlich auf die Krim und Donbasregionen bezieht und darauf, dass die Ukraine Russland kein Vetorecht einräumt, wenn es um internationale Militärübungen auf ukrainischem Gebiet geht.[57]
Am 2. März wurde einer der Unterhändler, Denis Kireev, im Zentrum Kiews von Mitgliedern des ukrainischen Geheimdienstes SBU aus seinem Auto gezerrt. Seine Leiche wurde einige Straßen weiter gefunden. Beamte des SBU, einer von russischen Spionen unterwanderten Behörde, behaupteten Kireev sei ein Verräter gewesen, der erschossen worden sei, als er sich seiner Verhaftung widersetzte. Kireev hatte verdeckt für den rivalisierenden ukrainischen Militärgeheimdienst HUR gearbeitet und dessen Direktor Kyrylo Budanow erklärte Monate später, Kireevs Rolle sei es gewesen, seine persönlichen Beziehungen zu zwei Mitgliedern der russischen Delegation zu nutzen und auf Zeit zu spielen. Er habe die Ermordung Kireevs mit dem damaligen Direktor des SBU, Iwan Bakanow, besprochen, aber keine Erklärung dafür erhalten. Bakanov war ein Jugendfreund Selenskyjs aus Krywyj Rih und einer der wenigen Menschen, die das Vertrauen des Präsidenten genossen. Im Juli wurde Bakanov von Selenskyj entlassen.[58]
Der israelische Politiker Naftali Bennett, der von Juni 2021 bis 30. Juni 2022 Ministerpräsident Israels war, wurde eigener Aussage zufolge Anfang März 2022 von dem ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj kontaktiert und gebeten, Kontakt zum russischen Präsidenten Wladimir Putin aufzunehmen, da er, wie er sagte, wie kaum ein anderer Politiker in Regierungsverantwortung Vertrauen bei den Regierungen beider Staaten besaß. Bennett kam der Bitte Selenskyjs nach und versuchte unter Absprache mit den Staats- und Regierungschef von Frankreich (Emmanuel Macron), Deutschland (Olaf Scholz), USA (Joe Biden) und dem Vereinigten Königreich (Boris Johnson), beide Kriegsparteien zu Zugeständnissen zu bringen, um einen Waffenstillstand auszuhandeln.[59][60]
Nach seinen Angaben gelang es Bennett, Putin „zwei große Zugeständnisse“ abzuringen. Zum einen soll Putin versprochen haben, auf die angebliche „Denazifizierung“ der Ukraine zu verzichten und auch darauf, Selenskyj zu töten. Zum anderen sei Putin bereit gewesen, auf eine vollständige „Entmilitarisierung“ der Ukraine zu verzichten. Selenskyj wiederum habe Bennett zugesichert, auf einen Beitritt zur NATO zu verzichten. Zu jenem Zeitpunkt im März 2022 sah Bennett die Erfolgschancen seiner Vermittlung bzw. die für einen Waffenstillstand zwischen der Ukraine und Russland bei 50 Prozent. Noch nicht geklärt waren laut Bennett etwaige Sicherheitsgarantien durch die USA und weitere Staaten der westlichen Welt sowie territoriale Fragen zum Donbass und zur Krim.[59][60]
Benett zufolge vertraten Scholz und Macron pragmatische Positionen und drängten auf einen Waffenstillstand, während Boris Johnson die Meinung vertreten habe, dass die Ukraine keine Zugeständnisse gegenüber Russland bzw. Wladimir Putin eingehen sollte. Biden sei unentschieden gewesen bzw. habe laut Bennet beide Positionen vertreten. In einer Rückschau im Jahr 2023 erklärte Bennett, dass der Westen im März 2022 die „legitime Entscheidung“ getroffen habe, dass die Ukraine auf die russische Invasion und andauernde Angriffe nicht mit Zugeständnissen gegenüber der russischen Regierung reagieren sollte. Auf die Nachfrage eines Journalisten, ob der Westen den möglichen Waffenstillstand blockiert hätte, antwortet Bennett: „Grundsätzlich ja.“ Bennett bewertete das Bekanntwerden des Massakers von Butscha als den Zeitpunkt, ab dem (erneute) Verhandlungen über einen Waffenstillstand nicht mehr möglich gewesen seien.[59][60]
Im Juni 2023 versuchte eine Delegation bestehend aus Cyril Ramaphosa (Präsident von Südafrika), Azali Assoumani (Vorsitzender der Afrikanischen Union und Präsident der Komoren) sowie Vertretern aus Ägypten, Senegal, Sambia, der Republik Kongo und Uganda bei Besuchen in Kiew und Moskau beide Kriegsparteien von ihrem Zehn-Punkte-Plan zur Beilegung des Konflikts zu überzeugen. Sowohl der ukrainische Präsident als auch der russische Präsident lehnten die Initiative der afrikanischen Delegation ab.[61]
Trotz des Zusammenbruch jeglicher direkter Verhandlungen ab April konnte auf Vermittlung der Türkei und der Vereinten Nationen im Juli 2022 das so genannte Getreideabkommen geschlossen werden (Vertragspartner Türkei und Ukraine einerseits, und Türkei und Russland andererseits), das beiden Parteien den Export von Getreide, gewissen Lebensmitteln sowie Dünger über das Schwarze Meer erlaubte. Im Rahmen dieses Abkommens wurden zunächst Hoffnungen laut, dass dieser Vertrag einen Weg für weitere Gespräche eröffnen könnte. Im Juli 2023 ließ Russland das Abkommen auslaufen.[62]
Nach Scheinreferenden in Teilen der Süd- und Ostukraine[63] verkündete Putin die Russische Annexion der Süd- und Ostukraine von besetzten und bis dahin noch unbesetzten Gebieten am 30. September 2022. Verhandlungen über deren Status schloss er kategorisch aus. Damit wurde seine Verhandlungsverweigerung von der Krim auf alle besetzten Gebiete ausgeweitet. Die russische Seite machte somit jegliche diplomatische Lösung des Konflikts äußerst unwahrscheinlich.[2]
Ende Dezember 2022 forderten Selenskyj und sein Außenminister Kuleba Verhandlungen unter Einbeziehung der UN, bestenfalls an deren New Yorker Hauptsitz. Dort wollte Selenskyj auch seine „Friedensformel“ für die Nachkriegsordnung näher erläutern. Zur Voraussetzung für eine russische Teilnahme machte Kuleba allerdings, dass Russland seine Truppen zurückziehe und die Bereitschaft zeige, sich vor einem internationalen Tribunal für seine Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen zu verantworten.[64] Die Ukraine erhoffte sich eine internationale Beteiligung und mehr Verbindlichkeit mit UN-Generalsekretär António Guterres als Vermittler. Die UN äußerte sich auf den Vorschlag zum Friedensgipfel eher verhalten. Eine Vermittlung durch Guterres sei nur möglich, wenn beide Seiten dies wollten.[65]
Zur rechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland gab es seit 2014 mehrere UN-Resolutionen: Am 27. März 2014 wurden in der Resolution 68/262 der UN-Generalversammlung alle Konfliktparteien aufgerufen keine Waffengewalt anzuwenden und die Souveränität und Integrität der Ukraine innerhalb der völkerrechtlich anerkannten Grenzen zu achten. Am 7. Dezember 2020 forderte die Generalversammlung der UN in einer weiteren Resolution die Russische Föderation erneut auf, ihre Besatzungstruppen sofort, umfänglich und bedingungslos von der Krim zurückzuziehen und die Okkupation der Krim zu beenden.[66]
Die Resolution ES-11/1 der UN-Generalversammlung war die Erste zum russischen Angriff vom 24. Februar 2022 und wurde am 2. März 2022 angenommen.[67] In ihr wurde mit der großen Stimmenmehrheit von 77,9 % der russische Einmarsch in die Ukraine auf das Schärfste missbilligt. Resolutionen der Generalversammlung sind völkerrechtlich nicht bindend.[68]
In der Resolution ES-11/4 der UN-Generalversammlung am 12. Oktober 2022 erklärten ebenfalls 143 der 193 Staaten, dass die russischen Referenden und die Annexion der ukrainischen Regionen Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja illegal sind und bekräftigen die territoriale Integrität der Ukraine. Die Russische Föderation solle ihre Truppen unverzüglich aus dem völkerrechtlich anerkannten Hoheitsgebiet der Ukraine zurückziehen. In Punkt 7 begrüßt die Generalversammlung die fortgesetzten Bemühungen des Generalsekretärs und der Mitgliedstaaten bzw. bekundet ihre nachdrückliche Unterstützung dazu und „fordert die Mitgliedstaaten und internationalen Organisationen, einschließlich der OSZE auf, die Deeskalation der derzeitigen Situation und eine friedliche Beilegung des Konflikts durch politischen Dialog, Verhandlungen, Vermittlung und andere friedliche Mittel zu unterstützen, unter Achtung der Souveränität und territorialen Unversehrtheit der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen und im Einklang mit den Grundsätzen der Charta“.[69]
Mit der Resolution A/RES/77/249 hat die UNO-Vollversammlung am 9. Januar 2023 den Bericht ihres 6. Ausschusses für Gültiges Recht (Legal Law) angenommen und das Komitee für Völkerrecht aufgefordert, die in diesem Bericht behandelten Punkte zum Thema „Verhinderung und Bestrafung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bei seiner Sitzung vom 10. bis 14. April 2023 aufzugreifen und bei seiner Sitzung vom 1. bis 5. April 2024 bzw. am 11. April 2024 gegen Einwände abzuwägen.[70]
Am 23. Februar 2023 forderten 141 der 193 Staaten bei 7 Gegenstimmen und 31 Enthaltungen mit der Resolution A/ES-11/L.7 der UN-Generalversammlung Russland dazu auf, unverzüglich, vollständig und bedingungslos alle seine militärischen Kräfte aus dem Hoheitsgebiet der Ukraine abzuziehen, und riefen zur Einstellung der Feindseligkeiten auf.[71] Dagegen stimmten sieben Länder (Belarus, Nordkorea, Eritrea, Mali, Nicaragua, Russland, Syrien), 32 enthielten sich, darunter China, Indien und Pakistan. Dabei berief sich die UNO-Vollversammlung auf die Resolution 377A(V) von 1950,[72] die wegen der Handlungsunfähigkeit des UN-Sicherheitsrats anzuwenden sei. Es gab zwei Eingaben zur Abänderung des Wortlauts der Resolution durch Belarus.[73]
Da Russland im Sicherheitsrat sein Vetorecht gegen Friedensbeschlüsse nutzt (und auch von China teilweise unterstützt wird), sind die UN blockiert und können nicht direkt eingreifen.
Im September 2022 schlug Mexiko in einer Sitzung des UN-Sicherheitsrates die Einrichtung eines Committee for Dialogue and Peace in Ukraine vor. Indiens Premierminister Narendra Modi, Papst Franziskus könnten dem neuen Gremium beitreten, das helfen könne, die Friedensbemühungen von Guterres zwischen der Ukraine und Russland zu unterstützen.[74]
Vom 21. Februar bis 1. März 2023 traf sich, diesmal im Auftrag der 77. Vollversammlung der UNO, der Unterausschuss des Sicherheitsrats zur Bekräftigung der Durchsetzung der UN-Charta zu seiner alljährlichen Aussprache. Mit großer Mehrheit wurde der Einmarsch der Russischen Föderation in die Ukraine verurteilt. Besonders die humanitären und wirtschaftlichen Folgen von Sanktionen für Dritte wurden immer wieder hervorgehoben. Die Eingangsstatements vom 21. Februar 2023, darunter die der Europäischen Union und ihrer Beitrittskandidaten sowie des Irans als Sprecher der bündnisfreien Staaten, schlugen für den Reformprozess der UNO und die Bekräftigung der UN-Charta, insbesondere angesichts des Ukrainekriegs, unterschiedliche Schwerpunkte vor. Viele Länder befürworteten eine Stärkung regionaler Befriedungsbemühungen bei regionalen Konflikten, andere wünschten eine Beibehaltung oder sogar eine Stärkung der Sanktionsgewalt des Sicherheitsrats zu Lasten von Sanktionen durch einzelne Länder oder Bündnisse. Auch die Zusammensetzung des Sicherheitsrates und sein mögliches Eingreifen in die Kompetenzen anderer UN-Organe wurden von verschiedenen Ländern kritisiert.[75] Belarus und die Russische Föderation schlugen am 24. Februar 2023 vor, den Einmarsch in der Ukraine durch den Internationalen Gerichtshof in Den Haag dahingehend begutachten zu lassen, ob er mit der UN-Charta vereinbar ist.[76] Es wurde die Einführung zur Sitzung von 2023 (A/AC.182/2023/L.1), die den Verlauf der Debatte und die maßgeblichen Papiere benennt, von der UN-Vollversammlung angenommen.[77]
Im November 2022 machte die Washington Post bekannt, dass die US-Regierung unter Biden nicht davon ausgeht, dass Putin an ernsthaften Friedensgesprächen interessiert sei. Die ukrainische Führung wurde trotzdem ermutigt, ihre öffentliche Weigerung aufzugeben, sich an Friedensgesprächen mit dem russischen Präsidenten zu beteiligen. Dies solle eine Ukraine-Müdigkeit vermeiden und so der Ukraine die langfristige Unterstützung verbündeter Staaten sichern, deren Bürger einen Krieg über viele Jahre hinweg befürchteten.[78]
Die vier Friedensforschungsinstitute Bonn International Centre for Conflict Studies, Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg und Institut für Entwicklung und Frieden empfehlen in ihrem Friedensgutachten 2022 Druck auf Russland, um ernsthafte Verhandlungen zu ermöglichen. Sanktionen und militärische Unterstützung der Ukraine müssten dazu dienen, Russland zu einem verlässlichen Waffenstillstand und langfristig zu einer Friedenslösung zu bewegen, die Friedensbruch nicht belohnt.[79]
Herfried Münkler vertritt den Standpunkt, dass Verhandeln und Kämpfen sich keineswegs ausschließen würden. Waffenlieferungen stellten sicher, dass sich die Ukraine im Erschöpfungskrieg als durchhaltefähig erweisen könne. Westliche Sicherheitsgarantien könnten ausschließen, dass Russland langfristig weitere Eroberungsversuche der Ukraine starten werde.[80]
Im Januar 2023 äußerte der frühere US-Außenminister Henry Kissinger, der noch vor dem Krieg für eine Gebietsabtretung an Russland sowie gegen eine NATO-Mitgliedschaft war, die Überzeugung, dass nach Erreichen der Vor-Kriegs-Linie ein Waffenstillstand auf dieser Basis sowie Verhandlungen über eine „Lösung des Konflikts“ möglich würden. Zugleich sprach er sich jetzt, anders als vor dem Krieg, für eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine aus.[81]
Wolfgang Ischinger, früherer deutscher Botschafter und ehemaliger Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz schlug im März 2023 vor, „Rahmenbedingungen für Friedensverhandlungen Russlands und der Ukraine vorzubereiten“. Deutschland sollte „gemeinsam mit den USA, Großbritannien und Frankreich“ eine Kontaktgruppe bilden, „die später in Friedensverhandlungen einbezogen werden könnte“. Um diese Staatengruppe könnte sich „ein Kreis von Partnern gruppieren, darunter Kanada, Spanien, Polen, Italien, die baltischen Staaten sowie die UN, EU, OSZE und Nato“.[82]
Der frühere EU-Kommissar Günter Verheugen (SPD) mahnte im August 2023 an, Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland anzustreben. Um die großen, überlebensbedrohlichen Krisen der Menschheit zu bewältigen, müssten alle Kräfte konzentriert werden. Da könne man keinen „Staat ausschließen, weil einem die Zustände dort nicht gefallen“. Auch wenn Russland zweifelsfrei der Aggressor ist, habe der Krieg eine Vorgeschichte, die jedoch in unseren Medien weitgehend ausgeblendet werde. Er glaube, „dass die Option einer engen Kooperation mit der EU für Russland immer noch attraktiv“ sei. Schließlich sei auch Deutschland „nach 1945 wieder die Hand gereicht“ worden. In allen europäischen Ländern wachse die öffentliche Skepsis gegenüber der jetzigen Ukraine-Politik und auch die Mehrheit der Deutschen wünsche, dass der Krieg so schnell wie möglich beendet werde und man in Friedensverhandlungen eintrete.[83][84][85]