NB 1, Tristan und Isolde, Akt I, T. 1–3
NB 2, Tristan und Isolde, Akt III, T. 1–2
Richard Wagner – Tristan und Isolde – Vorspiel (11:09 Minuten – 13,9 MB)

Der Tristan-Akkord ist ein in Richard Wagners 1865 uraufgeführtem Musikdrama Tristan und Isolde als Leitklang verwendeter Akkord. Er erklingt erstmals im zweiten Takt des Vorspiels zum I. Akt in den Celli und Holzbläsern, wo er den Abschluss der Cello-Melodie und den Anfang der Oboen-Melodie bildet (NB 1). Eine Variante erklingt am Anfang des III. Akts in den Streichern (NB 2).[1]

Der Akkord entzieht sich wegen seiner harmonischen Undurchsichtigkeit bis heute einer einfachen bzw. allgemein akzeptierten Deutung. Es hat immer wieder sehr unterschiedliche Versuche gegeben, ihn funktionsharmonisch zu interpretieren. Seine Vieldeutigkeit ist zudem typisch für die extrem chromatische und tonal unstete Harmonik der Tristan-Partitur, in der Ernst Kurth eine Krise der romantischen Harmonik sah.[2]

Mögliche Deutungen

Alterierter Vorhaltsakkord

Das „gis1“ wird als Vorhalt angesehen, der sich nach „a1“ auflöst, so dass der eigentliche Akkord „f-h-dis1-a1“ lautet. Dieser alterierte Terzquartakkord kann wiederum unterschiedlich interpretiert werden:

Die Deutung als Vorhaltsakkord hat den Vorteil, dass sich der Auflösungsakkord zwanglos in einen Kadenzverlauf einfügt, wurde aber auch oft kritisiert, weil die Auflösung wegen ihrer kurzen Dauer zu wenig Gewicht hat, um als Hauptakkord empfunden zu werden.

Alterierter Akkord ohne Vorhalt

Bei dieser Deutungsvariante wird das „dis1“ als Hochalteration des „d1“ aufgefasst, so dass der ursprüngliche Akkord „f-h-d1-gis1“ heißt. Auf die Grundstellung in enger Lage zurückgeführt ergibt sich der verminderte Septakkord „gis-h-d1-f1“, was nach der Stufentheorie die VII. Stufe von a-Moll wäre und nach der Funktionstheorie ein „verkürzter“ Dominantnonenakkord (mit fehlendem Grundton „e“).

Eigenständiger Akkord

Da der Tristan-Akkord im Verlauf der Oper immer wieder unabhängig von der jeweiligen Fortführung und in unterschiedlichen Notationen auftaucht, hat es nicht an Versuchen gefehlt, den Akkord im Sinne eines „Leitmotivs“ als eigenständiges Klanggebilde zu deuten (also gis1 als Akkordton, a1 als Durchgang):

Nicht-eigenständiger Akkord

Neue Aspekte ergeben sich, wenn der Tristan-Akkord als Bestandteil kadenzierender Zusammenhänge betrachtet wird. Peter Petersen 2019: "Allgemein gilt, dass wir von der Akkordanalyse wegkommen und endlich Kadenzanalyse betreiben müssen."[6] Im I. Akt T. 1–3 ist der Akkord mit einem chromatischen Motiv (gis1-a1-ais1-h1) verbunden (NB 1), was ihm eine besondere Färbung verleiht, im III. Akt T. 1–2 hat er eine normale Mollfärbung, weil er ein diatonisches Motiv (g-as-b-c1) harmonisiert (NB 2). Je nach Kontext lassen sich zwei Typen von Tristan-Akkorden unterscheiden:

Mit Blick auf die Oper als Ganze lässt sich der TAchr der Gefühlswelt Isoldes zuordnen. Der TAdia repräsentiert Tristans Liebessehnen, drückt aber auch das Liebesempfinden beider gemeinsam aus.[7]

Der Tristan-Akkord als Leitklang

Entgegen der Auffassung, dass der Tristan-Akkord ein Leitmotiv sei, wird in der Forschung der Begriff des Leitklangs verwendet.[8]

Der Begriff des Leitklangs steht aber dem Begriff des Leitmotivs nahe, da er sich lediglich in der genannten Linearität vom Leitmotiv unterscheidet.[9] Ein wesentlicher Punkt beider Begriffe ist, dass etwas geleitet wird. Dies wirft aber einen Konflikt auf, da zunächst nicht klar zu verstehen ist, was vom Tristan-Akkord geleitet wird. Eine These ist, dass sich Leitmotive bei Wagner ausschließlich im Ring des Nibelungen klar identifizieren lassen, während sie in anderen Werken durch Widersprüche zwischen Motiven und dem Text der Sänger ausgeschlossen werden.[10] Für den Tristan-Akkord scheint dies aber nicht gegeben zu sein, da er nicht zwangsläufig mit etwas Textgebundenem korealiert. Sein Bezug kann eher auf Wagners „Urszene“ bezogen werden.[11] Diese lautet: '[Liebes-]Sehnsucht mit Erlösung im Tode' und zieht sich auf einer Metaebene durch viele Werke Wagners. Diese Urszene zeigt ebenfalls Wagners philosophische Ansichten, welche sich stark psychologisch-philosophische in seinen Werken widerspiegelt.[12]

Musikhistorische Bedeutung

Im Hinblick auf die historische Fortentwicklung der Harmonik besonders interessant sind die kreativen und wegweisenden unterschiedlichen Weiterführungen des Tristan-Akkords im Laufe des Gesamtwerkes sowie die Einbettung in den hochgespannten chromatischen Alterationsstil der Oper. So taucht der Akkord häufig mit denselben Tonstufen, aber enharmonisch verändert (z. B. „f, h, es, as“ oder „f, ces, es, as“) und in anderem tonalem und harmonischem Umfeld auf, was auch die Analyse des Beginns zusätzlich erschwert. Damit ist der Tristanakkord eine Art Inbegriff spätromantischer Harmonik, die seitdem an Halt und Bindekraft zur Tonika mehr und mehr verliert, bis es schließlich gegen 1910 zum vollkommenen Umschlag in die Atonalität kommt.

Musikhistorisch bedeutsam ist auch, dass sich der Tristanakkord durch seine praktisch nicht vorhandene Strebewirkung auszeichnet. Als Dominante mit Sextvorhalt hört man ihn nicht, da die Auflösung des Vorhalts in die Septime nur als chromatischer Durchgang gehört wird (weil es sich hierbei lediglich um eine Achtelnote handelt). Als Subdominante kann er aber auch nicht überzeugen. So steht er zunächst richtungslos im Raum, bis die Fortschreitung, die in die Dominante „E“ mündet, den tonalen Zusammenhang a-moll erkennen lässt.

Ein weiterer, in der Tristan-Diskussion häufig vernachlässigter Aspekt ist die Tatsache, dass nicht nur der Tristan-Akkord für sich allein genommen keine Richtung der Auflösung besitzt (das eben macht ja seine Mehrdeutigkeit aus), sondern dass vielmehr die Dominante, in die er mündet, nicht mehr als eine Dissonanz mit unbedingt geforderter Auflösung gehört wird. Der Hörer empfindet diese Dominante eher als Auflösung denn als aufzulösenden Akkord. Hier findet also das statt, was später Arnold Schönberg als „Emanzipation der Dissonanz“ bezeichnet hat, was dann im frühen 20. Jahrhundert zu Kompositionsstilen führte, bei denen Dissonanzen überhaupt keine Strebewirkungen im herkömmlichen Sinne mehr besitzen.

Der Tristan-Akkord bei anderen Komponisten

Der Tristan-Akkord, von Wagner selbst auch in den Meistersingern zitiert, hat in der Musiktheorie eine solche Bekanntheit, dass ihn andere Musiker später zitierten.

Spätere Zitate

Früheres Vorkommen

Im Unterschied zu Wagner bereitet hier die funktionale Einordnung in einen Kadenzverlauf keine Probleme. Es handelt sich nämlich um eine Umkehrform des auf es-Moll als Tonika zu beziehenden subdominantischen as-Moll-Dreiklangs mit Sixte ajoutée, der am Anfang des Notenbeispiels sogar in seiner Originalgestalt erscheint. Beethoven behandelt das „es“ des Akkords als Dissonanz und löst es nach „d“ auf. Da der Auflösungsakkord jedoch selbst ein Dissonanzakkord (verminderter Septakkord in dominantischer Funktion) ist, kann von einer „Auflösung“ im eigentlichen Sinne keine Rede sein, zumal die als Abschluss der Kadenz erwartete Tonika ausbleibt. Insgesamt viermal lässt Beethoven diesen Dissonanzakkord unaufgelöst im Raum stehen, zweimal in es-Moll und zweimal nach f-Moll transponiert. Dieses Beispiel belegt, dass die „Emanzipation der Dissonanz“ nicht erst bei Wagner beginnt, obwohl sie durch ihn besonders stark vorangetrieben wird.
Die Tristan-Akkorde lösen in verminderte Septakkorde auf. Dadurch entsteht eine tonale Unbestimmtheit, die 12 Takte lang anhält. Die Grundtonart C-Dur wird erst in Takt 13 durch den Dominantseptakkord vorbereitet und in Takt 14 schließlich erreicht. Ein weiteres Beispiel für die zitierte „Emanzipation der Dissonanz“ lange vor Wagner.

Tristan-Akkord im Film

Der Tristan-Akkord bzw. das Vorspiel dienen als Leitmotiv in Lars von Triers Film Melancholia. Wagners Musik begleitet fast 23 % des gesamten Films.[14]

Literatur

Einzelnachweise

  1. Vgl. das Kapitel "Tristan-Harmonik" in Peter Petersen: Isolde und Tristan. Zur musikalischen Identität der Hauptfiguren in Richard Wagners "Handlung" Tristan und Isolde, Würzburg: Königshausen & Neumann 2019, S. 47 ff.
  2. Ernst Kurth: Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners „Tristan“. Haupt, Bern u. a. 1920.
  3. a b Willibald Gurlitt, Hans Heinrich Eggebrecht (Hrsg.): Riemann Musik Lexikon. Sachteil. 12., völlig neubearbeitete Auflage. B. Schott’s Söhne, Mainz 1967, S. 987.
  4. Marc Honegger, Günther Massenkeil (Hrsg.): Das große Lexikon der Musik. Band 8: Štich – Zylis-Gara. Aktualisierte Sonderausgabe. Herder, Freiburg (Breisgau) u. a. 1987, ISBN 3-451-20948-9, S. 168.
  5. Constantin Houy: Hindemiths Analyse des Tristanvorspiels. Eine Apologie. In: Hindemith-Jahrbuch. Bd. 37, 2008, ISSN 0172-956X, S. 152–191.
  6. Peter Petersen: Isolde und Tristan. Zur musikalischen Identität der Hauptfiguren in Richard Wagners "Handlung" Tristan und Isolde, Würzburg: Königshausen & Neumann 2019, S. 17.
  7. Siehe das Kapitel "Tristan-Harmonik" in Peter Petersen: Isolde und Tristan. Zur musikalischen Identität der Hauptfiguren in Richard Wagners "Handlung" Tristan und Isolde, Würzburg: Königshausen & Neumann 2019, S. 47 ff.
  8. Vgl. Carl-Friedrich Beck, Die Tonstufe H als Klangbasis. Untersuchungen zu Tradition und Semantik vom 14. bis zum frühen 20. Jahrhundert (Tübinger Beiträge zur Musikwissenschaft 28), Tutzing 2007, S. 426.
  9. Vgl. Wolfgang Fuhrmann, Art. „Leitmotiv“, in: Das Wagner-Lexikon, Daniel Brandenburg, Rainer Franke und Anno Mungen (Hrsg.), Regensburg 2012, S. 387–390, hier S. 387f.
  10. Vgl. Carolyn Abbate, „Wagner, ʽOn Modulationʼ, and Tristan“, in: Cambridge Opera Journal 1 (1989), S. 33–58, hier S. 41ff.
  11. Martin Geck, Wagner. Biographie, München 2012, S. 29.
  12. Vgl. Martin Geck, Wagner. Biographie, München 2012, S. 28f.
  13. Georg Feder: Haydns Streichquartette. Ein musikalischer Werkführer (= Beck'sche Reihe 2203 C. H. Beck Wissen), Beck, München 1998, ISBN 3-406-43303-0, S. 79.
  14. Pascal Rudolph: Präexistente Musik im Film. edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag, 2022, ISBN 978-3-96707-757-5, S. 172, doi:10.5771/9783967077582 (nomos-elibrary.de [abgerufen am 31. Oktober 2022]).