Werner Kraft (* 4. Mai 1896 in Braunschweig; † 14. Juni 1991 in Jerusalem) war ein deutsch-israelischer Bibliothekar, Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und Lyriker jüdischer Herkunft. Er lebte nach seiner Emigration aus Hannover seit 1934 bis zu seinem Tod in Jerusalem und verkörperte als ausschließlich Deutsch schreibender Schriftsteller neben seinen Freunden Gershom Scholem, Ludwig Strauss und Ernst Simon das „Leben der deutschen Sprache in Jerusalem“.[1]
Werner Kraft stammt sowohl von mütterlicher als auch väterlicher Seite aus einer jüdischen Familie. „Mein Vater war ein guter Mann, und mir war er alles. Er stammt aus Calbe an der Saale“,[2] schreibt er zu Beginn seiner Erinnerungen „Spiegelung der Jugend“. „Meine Mutter stammt aus Hannover. Sie war kraftvoll. Weil mein Vater in den Geschäften kein Glück hatte, lag die Sorge für die Familie auf ihr.“ Eduard Kraft (1855–1916) lebte als Kaufmann zunächst in Elberfeld, ihn „besuchte die Schwermut, gerade weil er so freudig war und lange am Rhein gelebt hatte“.[3] Die Mutter Else, geb. Isenstein, (1868–1923) war die Tochter des hannoverschen Kaufmanns Julius M. Isenstein (1834–1914) und dessen Frau Anna Isenstein, geb. Rosenhain (1839–1926), deren Grab auf dem Jüdischen Friedhof an der Strangriede erhalten ist. Das großväterliche „Seiden-, Manufaktur- und Modewaarengeschäft I.M. Isenstein“ befand sich von 1871 bis 1881 im Zentrum Hannovers, in der Packhofstraße 13, (vorher, ab 1866, in der Seilwinderstraße 12). Die „Hannoversche Holzstifte-Fabrik Isenstein“, die ebenfalls dem Großvater gehörte, lag in der hannoverschen Oststadt (in der Cellerstraße 135, ab 1887 in der Nikolaistraße 14 und 1909–1914 in der Steinriede 4).[4] 1896 betrieb der Vater Eduard Kraft in der Innenstadt von Braunschweig, im Bohlweg 39/40 (Ecke Hagenscharrn), eine „Glas-, Porzellan- und Steingut-, Gold- und Spielwarenhandlung“.[5] Es ist das Geburtshaus von Werner Kraft.[6]
„In Braunschweig bin ich 1896 geboren, im Zentrum der Stadt, am Bohlweg, ich habe aber keine lebendige Erinnerung an diese Stadt, war später auch nur für Tage dort. Als ich fünf Jahre alt war, zogen meine Eltern nach Hannover. Da war ich zuhause, da wuchs ich auf, pflanzenhaft.“[3]
In Hannover wohnte die Familie Kraft hauptsächlich im Stadtteil Oststadt: Rambergstraße, Alte Celler Heerstraße, Lavesstraße und Fundstraße lauteten die Adressen. Im Gegensatz zu seinem eher praktisch veranlagten zwei Jahre älteren Bruder Fritz Kraft (1894–1917) entwickelte sich beim verträumten Werner die Leidenschaft fürs Lesen:
„Ich las und las, Sigismund Rüstig, den Schiffsjungen von Norderney,[7] Karl May (…), den Grafen von Monte Christo, den 'Kampf um Rom' von Felix Dahn las ich atemlos (…), die ‚Wiskottens‘ von Rudolf Herzog (…). Ich las ‚Jörn Uhl‘ von Gustav Frenssen und war begeistert. (…) Ich las auch die elenden Romane von Annie Wothe, die das vergoldete Leben der Offiziere, der Ulanen, den Bürgern vermittelte, auch mir. Der höchste Chef dieses Ulanenregiments war Wilhelm II. Der Kaiser kam jedes Jahr einmal nach Hannover und zog hoch zu Pferde an der Spitze seines Regiments durch die Stadt. (…) Ich las nicht nur, ich lebte. Im Winter wurden die Wiesen der Marsch überschwemmt, und wir liefen Schlittschuh, in großen Bogen. Im Sommer gingen wir am Sonntag in die Eilenriede, nach Steuerndieb, zum Kirchröder Turm, in den Tiergarten. Die Rehe im Tiergarten fraßen aus der Hand, die Kastanienbäume blühten. Dort wurde zu Abend gegessen, aus einem großen Paket mit Butterbroten, einer hatte es tragen müssen und wollte nicht, dann zurück durch den dunklen Wald, singend.[8]“
Von 1906 bis 1914 besuchte er die Leibnizschule in der Alten Celler Heerstraße (neben dem Gerichtsgefängnis, am heutigen Weißekreuzplatz) und legte im Jahre 1914 das Abitur ab.[9] Zu seinen Mitschülern gehörten u. a. Ernst Blumenthal (später Kaufmann in Stockholm) und der spätere Arzt Harald Berkowitz. In seinen Erinnerungen schrieb Kraft über seine Schulzeit:
„Zu Beginn der Quinta kam ich in die Leibnizschule, an der Alten Cellerheerstraße. (…) Die Mitschüler sehe ich auf einem Klassenbild. Manche fielen im Ersten Weltkrieg. (…) Mich selbst sehe ich mit Schülermütze und hervorquellenden braunen Haaren. Ich war ein eher schüchterner Junge. Alles fiel mir zu, außer Zeichnen und Singen, gleichzeitig lernte ich mit Lust. (…) Die Schule stand neben dem Gefängnis, dem von hohen Mauern umgebenen, sie war keines. Auf einer Stelle der Mauer hatte ein Bäumchen[10] Wurzel gefaßt und hielt sich. Durchs Klassenfenster sah man auf den Hof, wo die Sträflinge spazieren gingen.“[11]
Die Lektüre des Kindes und Jugendlichen Werner Kraft wandelte sich allmählich in einer bestimmten Richtung:
„Ich verschlang die gesamte damalige Literatur und Dichtung, aber allmählich schälten sich aus den vielen Gestalten, die teils bedeutend, teils – weil ich noch nicht die richtige Urteilskraft hatte – weniger bedeutend waren, zwei Figuren heraus, die von entscheidender Bedeutung für mein gesamtes geistiges Leben geworden sind. Der erste war der Dichter Rudolf Borchardt, den ich mit wirklicher Begeisterung las und den ich auch heute noch für einen sehr großen Dichter halte, unabhängig von seinen Ideen eines deutschen Kulturnationalismus (…). Und die zweite dieser Figuren war Karl Kraus, den ich fand in einem, ich möchte sagen, entscheidenden weltgeschichtlichen Augenblick, nämlich im Jahre 1914, bei Beginn des Krieges, als ich 18 Jahre alt war. Ich hatte auch schon vorher einzelne Hefte der ‘Fackel‘ gelesen, wie so vieles andere, aber mit diesem ersten Heft, das ich las, und in dem 1914 die Rede ‘In dieser großen Zeit, die ich noch gekannt habe, wie sie so klein war‘ erschien, war meine Stellung zu diesem Mann entschieden.“[12]
In der Buchhandlung Ludwig Ey am hannoverschen Steintor machte er 1913 die Bekanntschaft von Theodor Lessing,[13] der dem Schüler entscheidende Anstöße gab und mit dem er bis zu dessen Tod 1933 verbunden bleiben sollte. Lessing vermittelte auch Krafts erste Veröffentlichung in der von Franz Pfemfert herausgegebenen Zeitschrift Die Aktion, eine Rezension von Rudolf Borchardts Gedicht Wannsee und Stefan Georges Gedichtband Der Stern des Bundes.[14] Ein halbes Jahr lang versuchte er sich in einer Lehre als Bankkaufmann bei der Dresdner Bank in Hannover, deren Direktor Julius L. Isenstein (1856–1929) ein Verwandter mütterlicherseits war:[15]
„Die Lehrlinge arbeiteten zuerst in der Buchhaltung. Man saß auf hohen Drehstühlen vor ungeheuren Kontobüchern, in die unendliche Zahlen einzutragen waren. Das war traurig genug, wenigstens für mich, für andere war es der Anfang zum Aufstieg. Am traurigsten war das Ende des Monats, wenn in den riesigen Zahlenkolonnen Fehler auftauchten, die sich dann Seiten über Seiten fortsetzten, Bandwürmer nannte man sie, sie mußten gefunden werden, bis tief in die Nacht hinein dauerte das Suchen. Ich hielt es nur ein halbes Jahr aus …“[16]
1915 begann Kraft in Berlin ein Studium der deutschen und französischen Philologie sowie der Philosophie zusammen mit seinem Vetter, dem Lyriker Paul Kraft (1896–1922).[17]
„In Berlin hörten wir, Paul und ich, gemeinsam alles, was man hört, solange man noch nicht endgültig festgelegt ist. […] Wir lasen, lebten, liebten. Wir saßen in dem großartigen Rundsaal der Preußischen Staatsbibliothek. Wir tauschten Bücher über Bücher. Es gab auch Bücher, die man nicht erhielt, so das ‚Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen‘ von Magnus Hirschfeld, mit einem Aufsatz über George, und niemals später habe ich diesen Aufsatz, dessen Thematik gewiß merkwürdig war, gelesen. „Das kann ich Ihnen nicht geben“, sagte der sehr witzige Beamte in der Ausleihe, ‚sonst werde ich erschossen wie Robert Blum‘.“[18]
In Berlin schloss er auch Freundschaft mit Walter Benjamin und Gerhard (Gershom) Scholem. Hier traf er erstmals persönlich den von ihm verehrten Schriftsteller Rudolf Borchardt. 1916 wurde er Soldat, allerdings blieb ihm das sogenannte Stahlbad an der Front erspart. 1916 bis 1919 diente er als Sanitätssoldat in Hannover, die überwiegende Zeit in den Wahrendorffschen Anstalten, im sog. Lazarett für Kriegshysteriker und Kriegsneurotiker (heute Klinikum Wahrendorff) in Ilten bei Hannover, ein Dienst, der den Zwanzigjährigen an den Rand des Selbstmords brachte.[19] Überlebenshilfe waren ihm die Freundschaft mit Theodor Lessing und die Lektüre der Zeitschrift Die Fackel des Wiener Satirikers Karl Kraus[20] sowie der Bücher von Rudolf Borchardt – Kraus und Borchardt wurden bald seine geistigen Leitsterne – beide bekanntlich Männer jüdischer Herkunft, die sich zu dieser ihrer Herkunft nur schwer bekennen mochten:
„Alles zerrte an mir: Borchardt mit seiner Kriegsbegeisterung, Karl Kraus mit seiner radikalen Absage an den Krieg, George, der in seinem Gedicht 'Der Krieg' gleichzeitig dafür und dagegen war, Paul in seiner instinktiven Sicherheit, Theodor Lessing, der mir seine Haßgedichte vorlas gegen die deutschen Intellektuellen, die sich dem Krieg verschrieben hatten, vor allem gegen Thomas Mann.“[21]
Sein älterer Bruder Fritz Kraft, schon früh in der zionistischen Bewegung in Hannover aktiv, wurde ebenfalls Soldat. Als Angehöriger des kaiserlichen Levantekorps kämpfte er gegen britische Truppen in Palästina. 1917 kehrte er nahe Jerusalem von einem Patrouillengang nicht zurück und blieb vermisst.[22]
Nach dem Krieg konnte Werner Kraft 1919 bis 1920 sein Studium zusammen mit den Schwestern Toni und Erna Halle, die er 1916 im Kreis um Gerhard Scholem in Jena kennengelernt hatte, in Freiburg im Breisgau fortsetzen; u. a. hörte er Philosophie bei Edmund Husserl und Martin Heidegger:[23]
„Husserl habe ich nicht persönlich kennengelernt, dafür war ich zu jung. Aber ich habe in seinen Vorlesungen gesessen, und diese Vorlesungen waren für mich eine wirkliche Offenbarung. Ich habe dort zum ersten Mal erfahren – selbst wenn ich es später nicht fortgesetzt habe –, was Philosophie im strengen Sinne ist. Die nüchterne Leidenschaft dieses Mannes hat einfach ungeheuer auf mich gewirkt. (…) Heidegger war völlig asketisch. Es kam kein politisches Wort aus seinem Munde. (…) Beim Sprechen war sein Blick zur Erde gerichtet, mit langsamer Entwicklung der Gedankengänge. Und am Schluß kam dann manchmal zur allgemeinen Überraschung, wenn er vordeutete auf irgendetwas Geheimnisvolles, was im Mittelpunkt der Philosophie stände, etwas heraus wie: der Eros. Was natürlich unter uns jungen Studenten zu außerordentlicher Heiterkeit Anlaß bot. (…) Diese Vorlesungen waren sehr bereichernd und waren eine Ergänzung dessen, was Husserl bot in einem ganz anderen Sinne. Denn Heidegger machte Begriffsanalysen, die sehr fruchtbar waren.“[24]
Zwecks Erlernung eines Brotberufs absolvierte er 1920 bis 1926 eine Ausbildung zum Bibliothekar, zunächst des gehobenen Dienstes. 1922 heiratete er Erna Halle (1923 wurde ihr Sohn Paul Caspar [später: Shaul] geboren). 1922 bis 1926 war er an der Deutschen Bücherei in Leipzig tätig.[25] In Leipzig wohnten Werner und Erna Kraft zusammen mit Ernas Schwester Toni Halle – damals Lehrerin an der Leipziger Israelitischen Mädchenschule – am Floßplatz.[26] 1925 promovierte er in Frankfurt am Main über Die Päpstin Johanna, eine motivgeschichtliche Untersuchung (mit Schwerpunkt auf Rudolf Borchardts Drama 'Verkündigung') bei Professor Franz Schultz (1877–1950), bei dem Walter Benjamin die Habilitation im selben Jahr misslang, und absolvierte das Examen zum höheren Bibliotheksdienst. 1927 reiste die Familie Kraft nach Italien und traf sich in Florenz mit den Freunden Hedwig und Hermann Scheiner, mit der Schwägerin Toni Halle und mit Erich Brauer, die aus Palästina gekommen waren. In Candeglia bei Pistoia traf er zum letzten Mal mit Rudolf Borchardt zusammen und führte mit ihm aufwühlende Gespräche.
Seine Stelle an der Deutschen Bücherei in Leipzig wurde nicht verlängert, aber 1928 hatte – für ihn überraschend – seine Bewerbung an der Vormals Königlichen und Provinzial-Bibliothek (der heutigen Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek) in seiner Heimatstadt Hannover Erfolg. Nachdem zuvor seine Bewerbung bei der Staatsbibliothek in Lissabon für eine Stelle in Coimbra vergeblich gewesen war, schrieb er in seinen Erinnerungen:
„Nicht in Coimbra fand ich 1927 eine Anstellung als Bibliothekar, sondern in Hannover. Sie war lebenslänglich und hörte 1933 auf. Ich verdanke sie zwei überzeugten Demokraten. Der eine, ein hoher deutscher Beamter in Hannover, hat sich das Leben genommen, als Hitler zur Macht kam.“[27]
Er wurde Bibliotheksrat unter Direktor Otto Heinrich May, der seine Einstellung wohl aus antisemitischen Gründen zwar nicht befürwortet hatte, sie wurde aber seitens des Provinzialausschusses, der obersten Dienstbehörde, durchgesetzt.[28] Die größer gewordene Familie – 1929 wurde die Tochter Else (später Alisa) geboren – bezog eine Neubauwohnung in der hannoverschen Tiestestraße[29] nahe dem Geibelplatz. Es folgten fünf vielleicht glückliche, auf jeden Fall zufriedene Jahre in Hannover. Er nahm die freundschaftliche Verbindung zu Theodor Lessing wieder auf, lernte den Eckernförder Schriftsteller Wilhelm Lehmann kennen, in Berlin besuchte er die verehrte Dichterin Else Lasker-Schüler und die Vorlesungen von Karl Kraus. Und er begann in dieser Zeit eine Reihe von Zeitschriftenaufsätzen zu veröffentlichen über seine 'Favoriten' unter den deutschen Dichtern wie etwa den schwäbischen Bauerndichter Christian Wagner, Goethe, Stefan George, Karl Kraus, Franz Kafka und den baltendeutschen Aufklärer Carl Gustav Jochmann, dessen vergessenes Werk er in der Bibliothek wiederentdeckte.[30] Trotzdem fühlte er sich isoliert:
„In meinem Amt war man kollegial, dennoch war die Distanz immer fühlbar, besonders am Stammtisch, wo sich Bibliothekare, Archivare, Museumsdirektoren[31] einmal im Monat trafen, zu Bier und Politik und zu Witzen, die eher weinen machten als lachen. Wieder sah ich hier, obwohl im kleinsten Maßstabe, daß die Einzelnen waren, was sie waren, mehr oder weniger ernste Menschen, die sich unweigerlich in das Kollektiv der Massengesinnung verwandelten, wenn sie zusammenkamen.“[32]
1933 als Jude aus dem Dienst entlassen nach dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, emigrierte er mit seiner Familie über Stockholm und London zunächst nach Paris,[33] wo er den aus Czernowitz stammenden, späteren französischen Marx-Herausgeber Maximilien Rubel kennenlernte. Sie gaben zusammen eine kleine Zeitschrift heraus. In der Bibliothèque Nationale traf er zufällig mit Walter Benjamin zusammen, jetzt ebenfalls Exilant:
„Ich sah ihn wieder im Jahr des Schreckens, 1933, in Paris in der Bibliothèque Nationale, und schrieb ihm. Wir waren beide gewandelt, gewandelt worden. Die Vergangenheit lag die tausend Jahre zurück, auf die Hitler sich einrichtete, das Leben war geistig und leiblich auf ein Minimum eingeschränkt. Alles war tiefer Ernst, ausweglos, aber auch reif zum Beginnen. Keine Ästhetik mehr, alles Gesellschaft und Politik. […] Wir sahen uns fast täglich, Zettel wanderten von Tisch zu Tisch. Wir sahen uns auch im Café, wir gingen durch die Straßen.“[34]
Bald stellten sie fest, dass sie sich mit demselben Schriftsteller befassten: mit Franz Kafka. Benjamin schrieb 1934 an seinen Freund Gershom Scholem in Jerusalem:
„Kafkas Name veranlaßt mich, dir zu schreiben, daß ich hier einen – distanzierten – Umgang mit Werner Kraft aufgenommen habe. Er sah mich auf der Bibliothèque Nationale und wandte sich daraufhin schriftlich an mich. Ich war überrascht, von ihm einige Arbeiten zu lesen, denen ich weder Zustimmung noch Respekt versagen kann. Zwei von ihnen sind Kommentar-Versuche zu kurzen Kafkaschen Stücken, zurückhaltende und keineswegs einsichtslose. Kein Zweifel, daß er sehr viel mehr als Max Brod von der Sache verstanden hat.“[35]
Ab 1934 lebte er mit seiner Familie in Jerusalem, in der Alfasi Street im Stadtteil Rechavia. Nur mühsam fand er Arbeit in seinem Brotberuf als Bibliothekar (1936–1942 als Bibliothekar am Centre de Culture Française und von 1947 bis 1956 in der Antikenabteilung des Rockefeller Museums)[36] und konnte sich erst nach seiner Pensionierung ab 1956 als freier Schriftsteller und Essayist deutscher Sprache etablieren.
Wenig Bezug scheint er zum Pionierleben und der Kibbuzbewegung gehabt zu haben. Im Mai 1935 war er nach Beth Sera eingeladen, einem von deutschen Juden gegründeten Kibbuz im Jordantal südlich des See Genezareth. Kraft sollte dort einen Vortrag über Franz Kafka halten. In zwei Briefen an Maximilien Rubel beschrieb er seine Eindrücke: „Beth Sera. Notgezwungenes, sinnloses, heroisches Gemeinschaftsleben, in dem ich nicht leben könnte. Alles an diesen Menschen ist, in solchem Einsatz, bewundernswert, aber ihr Geist ist in Gefahr, zu verkümmern. Alles an mir ist gewöhnlich, aber mein Geist erstarkt.“ (4. Mai 1935) Mit diesem dem Intellektuellen so fremd bleibenden Gemeinschaftsleben versöhnte ihn auch nicht die Landschaft. „Palästina ist ein sehr schönes Land. Das Licht, in der Erscheinung der einfachen, kalten Farben der Landschaft, ist nicht weniger heroisch als das Leben der Menschen in den Kewuzot, deren eine – Bath Sera bei Daganja in der Nähe von Tiberias – ich gesehen habe! Und doch könnte ich so nicht leben.“ (9. Mai 1935)[37]
Der eher dem Stadtleben zugeneigte Kraft besaß in Jerusalem und Tel Aviv einen Freundeskreis überwiegend deutschsprachiger Juden (meist „Jeckes“), zu denen u. a. Gershom Scholem,[38] der Lyriker Ludwig Strauß,[39] der Pädagoge Ernst Simon,[40] der „straßenfegende Philosoph“ Gustav Steinschneider (1899–1981, Enkel des Begründers der wissenschaftlichen hebräischen Bibliographie Moritz Steinschneider), dessen Ehefrau Toni Halle (1890–1964) (Gründerin und Direktorin des „Neuen Gymnasiums“ in Tel Aviv, der heutigen Tichon Hadash High School),[41] der Freund Ludwig Wittgensteins und Architekt Paul Engelmann,[42] Else Lasker-Schüler,[43] Martin Buber,[44] der Bibliothekar Harry Timar[45] und der Lyriker Tuvia Rübner[46] gehörten.
Ein Brief, den der Schweizer Diplomat und Historiker Carl Jacob Burckhardt am 19. November 1962 an seinen Freund, den Schriftsteller Max Rychner, schrieb, gibt die Stimmung in diesem Kreis jüdischer Emigranten aus Deutschland gut wieder. Es handelt sich um einen Bericht über Burckhardts Israel-Besuch im Herbst 1962 und schildert ein Treffen mit Gershom Scholem, Ernst Simon, Werner Kraft und Kurt Blumenfeld in Scholems Bibliothek in Rechavia:
„Dort, in der wertvollen Bibliothek des bis aufs letzte erfahrenen, witzigen [Gershom] Scholem sind ein Dutzend Professoren und Schriftsteller versammelt, alle sprechen deutsch, alle sprechen von Deutschland, von deutschen Erinnerungen, deutscher Literatur, ja deutscher Literaturpolitik […], sie vernichten ein jeder irgend einen einstigen oder noch lebenden Gegner und erheben irgend einen Auserwählten in die Sterne. Es ist wie es vor 50 Jahren war, sie wissen ebensoviel wie damals, sie sind brillant und formulieren schlagend, aber etwas ganz Neues ist hinzugekommen, das sie nicht wahrhaben wollen: das Heimweh, ein tiefes Heimweh, das selbst ihre kritischen Äußerungen verklärt. Sogar der zurückhaltend distinguierte W[erner] Kraft, der blanke Krausianer, der Dich [= Rychner] mit vielen andern grüßen läßt, ist wehmütig und seine Definitionen aus scharfkantigem Material werden ganz weich an den Rändern. Bei den Menschen dieses Kreises ist keinerlei Rachsucht zu finden. Es ist nicht bei allen so.“[47]
Nach Deutschland oder gar nach Hannover kehrte Werner Kraft – außer auf zahlreichen Reisen – nicht zurück; er wurde 1948 israelischer Staatsbürger.
„Ich habe in Palästina und dann später in Israel die dichterische Existenz, die ich als Dichter der deutschen Sprache entwickelt habe, oder ursprünglich, die mir als Dichter der deutschen Sprache eigen war, fortgesetzt, und fühlte mich außerstande, einen Wechsel der Sprache vorzunehmen. Meine nahen Freunde wie Gerhard Scholem und Ernst Simon und andere haben dies bedauert, aber sie haben es allmählich schweigend hingenommen. Und als sie dann hörten, daß ich 1945 nicht sofort das Weite suchte, um nach Deutschland zurückzukehren, sondern mein Leben hier fortsetzte, da waren selbst sie befriedigt.“[48]
Etliche Besucher aus Deutschland haben die „verwunschen zugewachsene Wohnung zu ebener Erde, zu der eine Außentreppe steil hinab“[49] von der Alfasi Street führte, beschrieben. Als israelischer Staatsbürger und deutscher Dichter, der „nicht mehr den Anschluß an die hebräische Dichtung und Literatur gefunden“[50] hatte, lebte er ein Leben in Jerusalem, das ausschließlich der deutschen Sprache gewidmet blieb. Sein Freund, der Pädagoge Rudolf Lennert, charakterisierte diese ‚Insel-Existenz‘ in einem Aufsatz in der Zeitschrift „Neue Sammlung“, eine Besprechung von Krafts Essay-Bänden „Wort und Gedanke“ und „Augenblicke der Dichtung“, folgendermaßen:
„Die meisten dieser Essays sind Aperçus ‚bei Gelegenheit von…‘, aber sie werden nie um der Geistreichigkeit willen gemacht, sondern so, wie man bei langsamem, intensivem Lesen plötzlich 'innehalten' und aufblicken, zu seinem Bücherregal gehen kann; halblaute Meditationen, in ihrer Summe aber eine unerhörte ‚Schule des Lesens‘. Es ist die halbe deutsche Literatur, zwischen Klopstock und Brecht, die an diesem einsamen Leser in der Stadt Jerusalem vorbeizieht, mit wenigen Ausblicken auf noch Älteres und auf Außer-Deutsches; nicht mehr eigentlich ‚Literatur‘, sondern die Sprache selbst, die sich der Redenden auch ohne ihren Willen bemächtigen kann.“[51]
Diese seit den 1970er Jahren immer zahlreicher werdenden Besucher aus Deutschland, zu denen u. a. der Bibliothekar Paul Raabe,[52] der Literaturwissenschaftler und Übersetzer Friedhelm Kemp (München), der Karl-Kraus-Herausgeber und Museumsleiter Friedrich Pfäfflin[53] (München/Marbach), der Germanist und Kritiker Jörg Drews (Bielefeld/München) – er sorgte zwischen 1974 und 1986 für das Erscheinen von vier Büchern Krafts im Münchener Verlag edition text + kritik –, der Germanist Uwe Pörksen (Freiburg/Breisgau),[54] der Schriftsteller Peter Härtling,[55] der Cheflektor des Münchner C. H. Beck-Verlags Ernst-Peter Wieckenberg,[56] der Kölner Fotograf Georg Heusch und der Sammler Volker Kahmen, die späteren Gründer des Werner Kraft-Archivs (s. u.), der Münchner Literaturwissenschaftler und Jurist Reinhard Merkel,[57] die Fotografin Herlinde Koelbl,[58] die Journalistin Ariane Thomalla,[59] der Lüneburger Literaturwissenschaftler Werner H. Preuß,[60] der Braunschweiger Dichter Georg Oswald Cott[61], der Göttinger Verleger Thedel von Wallmoden[62] und der Lichtenberg-Herausgeber Ulrich Joost[63] gehörten, förderten in der einen oder anderen Weise die Veröffentlichung von Krafts Werken in Deutschland.
Als einem in Jerusalem lebenden Schriftsteller deutscher Sprache waren Werner Kraft die regelmäßigen Reisen nach Deutschland, aber auch nach Österreich, in die Schweiz und andere Länder Mitteleuropas, wichtig, in denen seine Freunde lebten und wo er erste Verlagsverbindungen anzuknüpfen versuchte, denn seine Schubladen in der Alfasi Street waren sozusagen voller Manuskripte, entstanden in der Zeit der Isolation 1934 bis 1945. Seit der ersten Europa-Reise nach dem Krieg im Jahre 1951, die ihn und Ehefrau Erna nach Lüneburg (zum Freund Hubert Breitenbach), Hannover (zur Regelung seiner Pensionsansprüche) und Klein-Wittensee (zu Wilhelm Lehmann[64]) führte, wiederholten sich diese mehrmonatigen Reisen regelmäßig zwischen 1953 und 1982. Mit zahlreichen Schriftstellern, Freunden und Bekannten, aber auch Unbekannten, die ihm nach der Lektüre seiner Artikel, Aufsätze oder Bücher nach Jerusalem schrieben, begann er eine lebhafte Korrespondenz. Häufig schrieb er seine Briefe auf Aerogrammen, diesen federleichten Luftpostbriefen, deren Platz begrenzt war und deren Ränder er in seiner gut lesbaren Handschrift auch noch mit Bemerkungen versah.[65]
Seit 1955 sind über 40 Buchveröffentlichungen im deutschsprachigen Raum zu verzeichnen: Lyrik, Prosa, Essays, Literaturkritik (über Kraus, Borchardt, Kafka, Jochmann, Hofmannsthal, George, Heine, Goethe). Seine Autobiographie Spiegelung der Jugend erschien 1973. Er war Herausgeber von Schriften von Heine, Kraus, Lasker-Schüler, Ludwig Strauß, Johann Gottfried Seume und Carl Gustav Jochmann. Ca. 500 Veröffentlichungen in deutschsprachigen Zeitschriften und Zeitungen sind in der Werner-Kraft-Bibliographie (s. u.) verzeichnet: Kritiken, Essays, Gedichte, Prosa und Aphorismen. Zahlreiche Preise und Ehrungen krönten in seinen späteren Jahren sein Lebenswerk, so u. a. 1966 der Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und 1971 der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Werner Kraft starb im 'biblischen Alter' von 95 Jahren. Sein Grab[66] befindet sich auf dem Friedhof des Kibbuz Tzora (20 km von Jerusalem entfernt bei Bet Schemesch), in dem seine Tochter Alisa Tibon[67] bis zu ihrem Tod 2023 lebte. 1983 gründeten deutsche Leser seiner Werke (um Georg Heusch und Volker Kahmen) das Werner Kraft Archiv e. V. in Köln und Rheinbach,[68] das sich seit 2003 im Literatur- und Kunstinstitut Hombroich (Stiftung Insel Hombroich)[69] in Neuss befindet, seit 1996 auch als Teilnachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Im Georg Heusch Verlag erschienen zwischen 1983 und 1996 in neun Bänden und einer Schallplatte Gesammelte Werke in Einzelausgaben. In der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek in Hannover, seiner Arbeitsstätte 1928 bis 1933, verzeichnet seit 2003[70] die Werner Kraft-Bibliographie als Online-Datenbank die Literatur von und über Werner Kraft (s. Weblinks). Ausstellungen zu seiner Biographie und seinem Werk fanden 1986, 1996, 2000 und 2008 in Hannover, Marbach, Berlin, Wolfenbüttel, Braunschweig und Leipzig statt. Im Jahre 1997 benannte die Landeshauptstadt Hannover eine Straße im Stadtteil Misburg – in der Nähe von Heinrich-Böll-Weg und Kafkastraße (was ihn gefreut hätte) – nach Werner Kraft.[71] Erst seit 2020 wird sie bebaut (Zugang von der Stadtbahn-Station „Kafkastraße“ der Linie 7).
Als Maxime eines 'israelischen Staatsbürgers deutscher Sprache' beschrieb Werner Kraft in seinen Erinnerungen „Spiegelung der Jugend“ seine Lebenserfahrung mit folgenden Worten:[72]
„Erst nach 1933 wußte ich endgültig und für immer, daß ich kein Deutscher war, daß ich ein Jude bin. Ihm wurde nun von einer verbrecherischen Gewalt diktiert, daß die Juden dem deutschen Volk nur durch die Sprache angehören. Was für ein Menetekel an der Wand, die schon mit Blut beschmiert war! Eben durch die Sprache, die jene Gewalt ermordete, ehe sie die Menschen ermordete! Ich habe diese Sprache nie preisgegeben, ich habe es immer für einen Auftrag gehalten, gegen den es keinen Einspruch gab, innerhalb des deutschen Geistes mein Leben zu führen.“