Annette Kuhn (* 22. Mai 1934 in Berlin; † 27. November 2019 in Bonn)[1] war eine deutsche Historikerin sowie Friedens- und Frauenforscherin. Sie war von 1966 bis 1999 Professorin für Geschichtsdidaktik und später auch für Frauenforschung an der Pädagogischen Hochschule Rheinland (Abteilung Bonn) und nach deren Auflösung 1980 an der Universität Bonn. Sie war die Inhaberin des ersten Lehrstuhls für Frauengeschichte in der Bundesrepublik Deutschland.[2]

Leben

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Annette Kuhn war die Tochter des jüdischen Philosophen Helmut Kuhn und seiner Frau Käthe, geb. Lewy. 1937 ging das Ehepaar Kuhn mit beiden Kindern ins Exil. Die erste Exilstation war das Kloster Pontigny in Frankreich, anschließend London und Haslemere (Surrey) in Großbritannien.[3]

Reinhard Kuhn, der älteste Sohn des Ehepaars, besuchte für eine kurze Zeit die Stoatley Rough School in Haslemere, die von Hilde Lion geleitet wurde.[4] Das Schulgeld erhielt Reinhard von Anita Warburg. Aufgrund unterschiedlicher pädagogischer Ansätze kam es zwischen dem Ehepaar Kuhn und Hilde Lion zu einem Konflikt, den auch Gertrud Bing nicht entschärfen konnte, so dass Reinhard von der Schule abgemeldet wurde.[5] Anschließend besuchten Reinhard und seine Schwester Annette den Yafflesmead Kindergarten von Margaret Hutchinson, der nach der Fröbelschen Spielpädagogik aufgebaut war.[6] Margaret Hutchinson schrieb:

„Annette is very happy at school. She enjoys her work. She concentrates well. She is able to use a pencil with good control in colouring, though she has yet no idea of pictorial representation. Her sense perceptions are accurate and she has been quick to learn English words taught in connection with her occupations. She understands what is said to her well. And her English accent has improved very much. (…)“

„Annette ist sehr glücklich in der Schule. Sie hat Spaß an ihrer Arbeit. Sie kann sich gut konzentrieren. Sie ist in der Lage, einen Bleistift kontrolliert zum Ausmalen zu benutzen, obwohl sie noch keine Vorstellung von bildlichen Darstellungen hat. Ihre Sinneswahrnehmungen sind genau und sie lernt schnell englische Wörter, die ihr im Zusammenhang mit bestimmten Bedeutungen beigebracht werden. Sie versteht gut, was zu ihr gesagt wird. Und ihr englischer Akzent hat sich sehr verbessert. (…)“

Margaret Hutchinson[7]

Mit der Unterstützung von Gertrud Bing, der Society for the Protection of Science and Learning (SPSL) und der amerikanischen Professorin Katherine Gilbert gelang der Familie Kuhn 1938 die Auswanderung in die USA.[8] Helmut Kuhn erhielt eine Gastprofessur in der University of North Carolina at Chapel Hill, ab 1946/47 wurde er ordentlicher Professor und auch Vorsitzender des Departments of philosophy. Ab 1947 übernahm Helmut Kuhn einen Lehrstuhl für Philosophie an der privaten Emory-Universität.[9] 1949 kehrte Helmut Kuhn mit seiner Frau Käthe und seiner Tochter Annette nach Deutschland zurück und übernahm einen Lehrstuhl an der Universität Erlangen, anschließend an der Universität München. Reinhard Kuhn wurde Professor für Romanistik an der Brown University.[10]

Seit 1949 wieder zurück in Deutschland, ging Annette Kuhn ab 1951 auf die Elisabeth-von-Thadden-Schule in Heidelberg und machte dort im Frühjahr 1954 ihr Abitur. Im Sommersemester 1954 begann sie zunächst Geschichte, Germanistik, Anglistik und Philosophie an der Universität München zu studieren. Nach einem Aufenthalt am Connecticut College, damals noch for Women („für Frauen“), schloss sie 1959 ihr Studium in München mit einer Promotion bei Franz Schnabel über Die Staats- und Gesellschaftslehre Friedrich Schlegels ab. Anschließend ging sie zum Abschluss des Staatsexamens und der Habilitation an die Universität Heidelberg, wo sie maßgeblich von Werner Conze geprägt wurde. Von dort aus konvertierte sie, begleitet von Romano Guardini, wie zuvor schon die Eltern zum Katholizismus.[11]

Bereits vor Abschluss ihrer Habilitation wurde sie 1966 als jüngste Professorin der Bundesrepublik Professorin für „Mittelalterliche und Neuere Geschichte und ihre Didaktik“ an der Pädagogischen Hochschule Bonn (zuständig für Lehrerausbildung und Diplompädagogik).[12] Ihre Vorgängerin auf dem Lehrstuhl war die wegen ihres Engagements für die Friedensbewegung angefeindete Professorin Klara Marie Faßbinder. Kuhn hatte bis dahin keine didaktischen Veröffentlichungen und noch keine Unterrichtsstunden gegeben. In den 1960er und 1970er Jahren nahm sie in ihren Arbeiten zur kritischen kommunikativen Geschichtsdidaktik und Friedenspädagogik die Kritik und Forderungen von außerparlamentarischer sowie studentischer Opposition auf. Sie setzte sich mit Wolfgang Hilligens politikdidaktischem Ansatz, Jürgen HabermasKritischer Theorie und Johan Galtungs Friedensforschung auseinander. 1980 wurde sie im Rahmen der Zusammenführung von Pädagogischer Hochschule und Universität Bonn in die neu eingerichtete Pädagogische Fakultät der Universität Bonn übernommen.[13]

Seit 1968 war Annette Kuhn Mitglied in diversen universitären und außeruniversitären Gremien, so beispielsweise im Beirat der Körber-Stiftung zum „Schülerwettbewerb deutsche Geschichte“, im Kuratorium der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung und Vorsitzende der Planungskommission Museum der Arbeit in Hamburg. Sie war Leiterin des Projekts der Volkswagenstiftung „Frau in der deutschen Geschichte“ und Leiterin des Projekts „Geschlechtsspezifisches Identitätslernen in der historisch-politischen Bildung“. Sie nahm verschiedene Gastprofessuren im Ausland wahr, so an der Universität Basel oder der University of Minnesota und hielt Gastvorlesungen im In- und Ausland, so in der Schweiz, in Schweden, in Österreich und in den USA. 1985 führte sie einen Kongress Frauengeschichte an der Universität Bonn durch und initiierte dort sowie im Frauenmuseum Bonn mehrere Ausstellungen.[14]

Der emanzipatorische Aufbruch der Frauen prägte ihre wissenschaftliche Arbeit seit den 1980er-Jahren. 1986 erhielt sie die erste Professur für historische Frauenforschung, per Erlass verfügte die Wissenschaftsministerin eine Umwidmung des damaligen Lehrstuhls in „Didaktik der Geschichte, mittlere und neue Geschichte, sowie Frauengeschichte“. Diese Professur gilt zugleich als Start des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW.[15] Sie trug dazu bei, dass eine neue sich kritisch erinnernde Sicht, auch an die jüngste deutsche Vergangenheit, möglich und in die Richtlinien für Geschichte und politische Bildung aufgenommen wurde. Diese Sichtweise stellte eine Provokation dar. Sie wurde von 1992 bis 1996 wegen ihrer zu der Studienordnung nicht passenden Themen vom Wissenschaftlichen Lehrerprüfungsamt in Bonn ausgeschlossen.[16]

In wissenschaftlichen Veröffentlichungen und als Herausgeberin geschichtsdidaktischer und frauengeschichtlicher Periodika arbeitete sie an der Überwindung der tradierten Trennung von Wissenschaft und Weiblichkeit und begründete eine kritisch-feministische Erkenntnistheorie (vergleiche Feministische Wissenschaftstheorie). Sie orientierte sich an Christine de Pizan und der italienischen Philosophin Luisa Muraro.[17]

Als wissenschaftliche Mentorin brachte sie wesentliche Projekte auf den Weg, um Frauenleistungen in der Geschichte sichtbar zu machen, u. a. die Quellen-Reihe „Frauen in der Geschichte“, die umfassende „Chronik der Frauen“ sowie mehrere große Ausstellungen zur Frauenkulturgeschichte. Kuhn war wissenschaftliche Leiterin der Ausstellung des Politeia-Projekts des Deutschen Bundestages zum Gender-Mainstreaming, die mit dem Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse und Marianne Hochgeschurz im Berliner Dom 2003 eröffnet wurde.[18]

1999 wurde Annette Kuhn emeritiert.[19]

2009 gründete sie die Annette-Kuhn-Stiftung zur Förderung frauenhistorischer Forschung und Bildung. Um die Ziele der Stiftung praktisch umzusetzen, wurde die Realisierung eines Hauses für Frauengeschichte angestrebt, welches 2012 in der Bonner Altstadt eröffnet wurde. Es lädt zu Veranstaltungen und zum Besuch der Dauerausstellung ein, die das Ziel verfolgt, Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart aus der Perspektive der Frauen sichtbar zu machen.[20] Bis 2010 erschienen die „Schriften aus dem Haus der FrauenGeschichte“ und die Zeitung „Spirale der Zeit“ (auch auf Englisch).

Annette Kuhn war Mitglied des Deutschen Akademikerinnenbundes, zu dessen 60-jährigem Bestehen sie mit Ursula Huffmann und Dorothea Frandsen den Band „Frauen in Wissenschaft und Politik“ herausgab.[21]

Ehrungen

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Veröffentlichungen (Auswahl)

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Monografien

Als Herausgeberin und Mitherausgeberin

Zeitschriften

Aufsätze

Autobiografie

Literatur

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Quellen

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Einzelnachweise

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  1. Nachruf: In Erinnerung an Annette Kuhn – Wegbereiterin für historische Frauenforschung. In: Haus der FrauenGeschichte. Bonn, November 2019, abgerufen am 3. März 2020.
  2. Udo Arnold, Peter Meyers, Uta C. Schmidt: Stationen eines Hochschullebens. Festschrift für Annette Kuhn zum 65. Geburtstag am 22. Mai 1999. Hrsg.: Arnold, Meyers, Schmidt. Edition Ebersbach, Dortmund 1999, ISBN 3-931782-64-6, S. 9–12.
  3. Christiane Goldenstedt: „Du hast mich heimgesucht bei Nacht.“ – Die Familie Kuhn im Exil. Books on demand, Norderstedt 2013, ISBN 978-3-7322-0766-4.
  4. Katharine Whitaker, Michael Johnson: Stoatley Rough School 1934–1960. Hrsg.: Stoatley Rough School History Steering Committee. Eigenverlag, Bushey Watford 1994.
  5. Helmut Kuhn: Brief von Helmut Kuhn an Hilde Lion. In: warburg.sas.ac.uk. 17. Januar 1938, abgerufen am 1. Juli 2021.
  6. Christiane Goldenstedt: „Du hast mich heimgesucht bei Nacht“ – Die Familie Kuhn im Exil. Books on demand, Norderstedt 2013, ISBN 978-3-7322-0766-4.
  7. Christiane Goldenstedt: „Du hast mich heimgesucht bei Nacht.“ – Die Familie Kuhn im Exil. Books on demand, Norderstedt 2013.
  8. Christiane Goldenstedt: „Du hast mich heimgesucht bei Nacht.“ – Die Familie Kuhn im Exil. Books on demand, Norderstedt 2013.
  9. Wheel: Dr. Kuhn leaves to go to Germany. Hrsg.: Emory University. Atlanta, Georgia Juli 1949.
  10. Christiane Goldenstedt: „Du hast mich heimgesucht bei Nacht“ – Die Familie Kuhn im Exil. Books on demand, Norderstedt 2013, S. 102.
  11. Annette Kuhn: Ich trage einen goldenen Stern. Ein Frauenleben in Deutschland. Aufbau, Berlin 2003, ISBN 3-351-02556-4, S. 70–104.
  12. Kristine von Soden: Annette Kuhn: Ich trage einen goldenen Stern. Ein Frauenleben in Deutschland. In: Deutschlandfunk. 8. Dezember 2003, abgerufen am 22. Dezember 2020.
  13. Udo Arnold, Peter Meyers, Uta C. Schmidt (Hrsg.): Stationen eines Hochschullebens. Festschrift für Annette Kuhn zum 65. Geburtstag am 22. Mai 1999, Edition Ebersbach, Dortmund 1999, S. 9.
  14. Udo Arnold, Peter Meyers, Uta C. Schmidt: Stationen eines Hochschullebens. Festschrift für Annette Kuhn zum 65. Geburtstag am 22. Mai 1999, Edition Ebersbach, Dortmund 1999, S. 10.
  15. Uta C. Schmidt: Eingreifendes Denken – die Historikerin Annette Kuhn im Geschichtsdiskurs der Bundesrepublik seit 1964. In: Gender – Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft. Nr. 3, 2015, ISSN 1868-7245, S. 44–60 (online auf budrich-academic.de [PDF; 2,4 MB; abgerufen am 22. Dezember 2020]).
  16. Annette Kuhn: Ich trage einen goldenen Stern. Ein Frauenleben in Deutschland. Aufbau, Berlin 2003, ISBN 3-351-02556-4
  17. Frauenmuseum Bonn: Stadt der Frauen. Szenarien aus spätmittelalterlicher Geschichte und zeitgenössischer Kunst. Hrsg.: Annette Kuhn, Marianne Pitzen. Ebersbach, Zürich, Dortmund 1994, ISBN 3-905493-67-5.
  18. Deutscher Bundestag: Politeia-Ausstellung. In: Deutscher Bundestag-Ausstellungen. Christine Bergmann, Rita Süssmuth, Heide Simonis, Christa Wolf, 2003, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 28. Januar 2021; abgerufen am 7. Januar 2021.
  19. Die Stifterin. Annette-Kuhn-Stiftung, abgerufen am 22. Dezember 2020.
  20. Haus der FrauenGeschichte: Geschichte sichtbar machen. In: hdfg.de. 1. Juli 2021, abgerufen am 1. Juli 2021.
  21. Dorothea Frandsen, Helge Pross, Rita Süssmuth u. a.: Frauen in Wissenschaft und Politik. Hrsg.: Ursula Huffmann/Dorothea Frandsen/Annette Kuhn. Schwann Verlag, Düsseldorf 1987, ISBN 3-491-18063-5.
  22. Ehrenpreisträgerinnen, auf kreis-neuwied.de, abgerufen am 7. Januar 2021.
  23. Verdienstkreuz für Pionierin der Frauenforschung. In: forsch – Bonner Universitäts-Magazin. Nr. 4, 2006, S. 42 (uni-bonn.de [PDF; 2,6 MB]).
Personendaten
NAME Kuhn, Annette
ALTERNATIVNAMEN Kuhn, Anette
KURZBESCHREIBUNG deutsche Historikerin und Geschichtsdidaktikerin
GEBURTSDATUM 22. Mai 1934
GEBURTSORT Berlin
STERBEDATUM 27. November 2019
STERBEORT Bonn