Als Diskriminierung Ostdeutscher werden die abwertende Behandlung, strukturelle Diskriminierung oder Stigmatisierung von in Deutschland lebenden Menschen bezeichnet, die auf dem Gebiet der DDR geboren oder aufgewachsen sind, also Menschen aus Ostdeutschland (siehe auch Neue Länder). Verschiedene Urteile deutscher Arbeitsgerichte kamen zum Schluss, dass die Herabwürdigung von Personen wegen ihrer ostdeutschen Herkunft keine Benachteiligung im Sinne von § 1 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) wegen der ethnischen Herkunft oder Weltanschauung sei.[1] Die Frage, ob Ostdeutsche eine Ethnie sind, ist umstritten.
Die Unterrepräsentation Ostdeutscher in den Eliten Deutschlands wurde seit den 1990er Jahren in verschiedenen Studien erforscht. Es wurden immer wieder Vorschläge zur Einführung einer Quotenregelung gefordert. Da die Zugehörigkeit von Menschen zur Gruppe der Ostdeutschen drei Jahrzehnte nach der Wende in vielen Fällen schwierig ist, definieren empirische Studien und Umfragen die Gruppe jeweils unterschiedlich.
Ein in Ostdeutschland geborener Koch reichte 2009 beim Arbeitsgericht Würzburg Klage ein, nachdem er an seinem Arbeitsplatz, der Küche einer Kaserne der US Army, von Vorarbeiter-Köchen unter anderem als „ostdeutsche Schlampe“ und als „Ossi“ bezeichnet worden war. Da die US-Streitkräfte aufgrund des NATO-Truppenstatuts nicht verklagt werden können, verlangte der Mann von der Bundesrepublik Deutschland Schmerzensgeld.[2] Das Gericht lehnte die Schmerzensgeldzahlung unter anderem mit der Begründung ab, der Begriff „Ossi“ bezeichne keine Ethnie und stelle keine Diskriminierung ostdeutscher Bürger dar.[3] Das Urteil berief sich dabei auf einen Kommentar des Rechtswissenschaftlers Gregor Thüsing, der die während der Friedlichen Revolution 1989 verbreitete Parole „Wir sind ein Volk“ auf den im Arbeitsrecht festgelegten Diskriminierungsschutz bezieht.[4]
Im Jahr 2010 entschied das Arbeitsgericht Stuttgart, Ostdeutsche seien keine Ethnie im Sinne des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes. Abgewiesen wurde die Klage einer in Berlin-Lichtenberg geborenen Frau, deren Bewerbung als Bilanzbuchhalterin in Stuttgart abgelehnt worden war. Auf dem zurückgesandten Lebenslauf war mit Tinte ein Minuszeichen und daneben das Wort „Ossi“ vermerkt. Das Arbeitsgericht wies die Klage mit der Begründung zurück, der Begriff könne zwar diskriminierend gemeint sein, für eine Ethnie im Sinne des Gleichbehandlungsgesetzes fehlten aber Gemeinsamkeiten in Tradition, Sprache, Religion, Kleidung und Ernährung. Die deutsche Teilung sei zudem zu kurz gewesen, um ethnische Unterschiede zu bewirken.[5] Das Urteil wurde daraufhin kontrovers diskutiert.[6] Der Rechtswissenschaftler Oliver Mörsdorf konstatiert, dass das Stuttgarter Urteil im Schrifttum überwiegend auf Zustimmung gestoßen sei. Die besseren Argumente sprächen jedoch dafür, Westdeutsche und Ostdeutsche im Sinne des § 1 AGG als eigene Ethnien zu behandeln.[7] Der Politologe Dan Bednarz sieht das Urteil als Beleg für die Unfähigkeit des deutschen Rechtssystems, die Stigmatisierung Ostdeutscher zu bewältigen.[8]
2019 entschied das Arbeitsgericht Berlin ähnlich im Fall eines Journalisten. Er hatte gegen seinen Arbeitgeber, eine wöchentlich erscheinende Sonntagszeitung, geklagt, da er von seinen Vorgesetzten wegen seiner Herkunft verbal herabgesetzt worden sei. In Redaktionssitzungen sei er als „dummer Ossi“ bezeichnet und mit Stasi-Mitarbeitern verglichen worden. Dies habe bei ihm psychische Störungen ausgelöst. Er legte im Prozess ein Expertengutachten vor, nach dem Ostdeutsche eine eigene Ethnie darstellten. Das Gericht lehnte die Klage mit Berufung auf das Stuttgarter Urteil ab und begründete die Ablehnung unter anderem damit, dass Ostdeutsche keine Ethnie seien, weil es in der DDR keine einheitliche Weltanschauung gegeben habe.[9]
Die an der Universität Potsdam entstandene „Potsdamer Elitestudie“ untersuchte im Jahr 1995 die Repräsentation von Ostdeutschen in den deutschen Eliten, die Ergebnisse wurden 1997 in einem Sammelband von Hilke Rebenstorf und Wilhelm Bürklin veröffentlicht. 60 Prozent der Führungskräfte der neuen Bundesländer waren demnach in der DDR ausgebildet und sozialisiert, was laut Wilhelm Bürklin der zu dieser Zeit gängigen „Kolonialisierungsthese“ widerspreche (siehe Abschnitt „Kolonialisierung“ Ostdeutschlands).[10] In der gesamtdeutschen Elite erwiesen sich Ostdeutsche dagegen als unterrepräsentiert (11,6 Prozent bei einem ungefähren Bevölkerungsanteil von 20 Prozent).[11]
Der in Rostock geborene Soziologe Steffen Mau konstatierte 2012 in der Zeit, die Tatsache, dass Deutschland mit Angela Merkel und Joachim Gauck gleichzeitig eine Bundeskanzlerin und einen Bundespräsidenten aus Ostdeutschland hatte, könne über die Unterrepräsentation nicht hinwegtäuschen.[12] Merkel wurde dafür kritisiert, ihre ostdeutsche Herkunft in den Hintergrund zu stellen. Ihre Rede zum Tag der Deutschen Einheit 2021 wurde als erstes öffentliches Bekenntnis zu ihren Erfahrungen mit Diskriminierung als Ostdeutscher gedeutet.[13][14][15] Der in Leipzig geborene Soziologe Raj Kollmorgen beschrieb die Biographien von Merkel und Gauck in einem Interview 2017 als Ausnahmen. Johanna Wanka sei zudem die einzige ostdeutsche Politikerin, die Ministerin in einem westdeutschen Bundesland (Niedersachsen) geworden sei.[16] Der brandenburgische Ministerpräsident Dietmar Woidke schlug 2020 Jes Möller als ersten ostdeutschen Richter am Bundesverfassungsgericht vor, setzte sich jedoch nicht durch. Im Juli des Jahres wurde Ines Härtel als erste ostdeutsche Verfassungsrichterin gewählt.[17][18]
Der in Frankfurt/Oder geborene Journalist Christian Bangel beobachtete 2019 in der Zeit den wachsenden politischen Einfluss sogenannter „Wossis“ in der Bundespolitik, da zahlreiche in Westdeutschland sozialisierte Politiker im brandenburgischen Potsdam leben.[19] Darunter sind Bundeskanzler Olaf Scholz, Außenministerin Annalena Baerbock und AfD-Politiker Alexander Gauland.[20]
Eine vom MDR in Auftrag gegebene Studie der Universität Leipzig ermittelte 2016, dass Führungspositionen in Ostdeutschland nur zu 23 Prozent von Menschen mit ostdeutscher Herkunft besetzt waren. Bei Ministerpräsidenten ostdeutscher Bundesländer war der Anteil höher. In Regierungskabinetten war der Anteil niedriger als 2004, bei ostdeutschen Staatssekretären gab es dagegen Zuwächse. In der Richterschaft stieg der Anteil von 11,8 auf 13,3 Prozent, bei Präsidenten und Vizepräsidenten der obersten Gerichte sowie Vorsitzenden Richtern der Senate von 3,4 auf 5,9 Prozent.[21] 2021 wurde keine der sieben Bundesbehörden, die in Ostdeutschland liegen, von Ostdeutschen geleitet.[22]
Im Koalitionsvertrag der Ampelkoalition wurde 2021 eine Verbesserung der „Repräsentation Ostdeutscher in Führungspositionen und Entscheidungsgremien in allen Bereichen“ vereinbart. Denis Huschka kritisierte 2022 in der Berliner Zeitung, dass nur fünf der 54 Spitzenpositionen im Kabinett Scholz mit Ostdeutschen besetzt worden seien, dafür aber zwei Ministerposten (Steffi Lemke und Klara Geywitz).[23] Eine 2022 von der in Weimar geborenen Verwaltungswissenschaftlerin Sylvia Veit an der Universität Kassel veröffentlichte Studie kam unter anderem zum Ergebnis, dass während der Regierungszeit von Helmut Kohl mehr Ostdeutsche in politischen Spitzenpositionen vertreten waren als gegenwärtig.[24][25]
Bundesweit waren 2017 nur 1,7 Prozent aller herausgehobenen Spitzenpositionen mit Ostdeutschen besetzt – im Vergleich zu einem Bevölkerungsanteil von etwa 17 Prozent. In der Erhebung wurde als „ostdeutsch“ verstanden, wer in der DDR sozialisiert und vor 1976 geboren wurde. Von 196 Vorständen von DAX-Unternehmen stammten 2017 vier aus Ostdeutschland (davon drei Frauen), kein Vorstandsvorsitzender kam aus den neuen Ländern.[26] Anfang 2019 lag die Zahl der DAX-Vorstandsmitglieder mit ostdeutscher Herkunft unverändert bei vier: Hiltrud Werner (* 1966, Vorstandsmitglied bei VW), Hauke Stars (* 1967, Vorstandsmitglied bei der Deutschen Börse), Kathrin Menges (* 1964, Vorstandsmitglied von Henkel, 2019 wurde ihr Vertrag nicht verlängert) und Torsten Jeworrek (* 1961, Vorstandsmitglied von Munich Re).[27]
In Chefredaktionen ostdeutscher Medien sind Ostdeutsche seltener vertreten als Westdeutsche.[28] Der Verleger Christoph Links wurde 2019 als erster Ostdeutscher zum Verleger des Jahres gewählt.[29] Der Unternehmer Holger Friedrich wurde mit dem Kauf der Berliner Zeitung 2019 zum ersten ostdeutschen Zeitungsverleger seit der Wende.[30]
Eine Übersicht vom medienkritischen Portal Übermedien zu deutschen Fernsehtalkshow-Gästen im ersten Halbjahr 2020 ermittelte einen ostdeutschen Anteil von 8,3 Prozent.[31] Eine Studie des Think Tanks „Progressives Zentrum“ ermittelte unter den zwischen 2017 und 2020 eingeladenen Politikern einen Anteil mit ostdeutscher Biografie von 15,2 Prozent.[32] Eine Umfrage unter Volontären der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ermittelte Ende 2020, dass 11 Prozent in den neuen Bundesländern aufgewachsen waren.[33]
Auf der vom Magazin Cicero anhand von Medienpräsenz, Internetzitationen und Google Scholar ermittelten Rangliste der einflussreichsten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum befanden sich im Jahr 2019 unter den ersten 100 nur fünf Personen mit DDR-Biographie, den höchsten Rang belegte der Liedermacher Wolf Biermann auf Platz 30.[34]
Ein Artikel im Spiegel konstatierte 2019, dass Ostdeutsche in der deutschsprachigen Wikipedia unterrepräsentiert seien. Die zugrundeliegende Datenanalyse umfasste alle Personenartikel mit einem Geburtsjahr von 1960 bis 1999 sowie einem identifizierbaren Geburtsort innerhalb der Grenzen des heutigen Deutschlands.[35]
Der in der Studie der Universität Leipzig 2016 ermittelte Anteil von 23 Prozent Menschen mit ostdeutscher Herkunft auf Führungspositionen in Ostdeutschland war in Hochschulleitungen noch geringer. In den Führungspositionen der größeren Forschungsinstitute in Ostdeutschland betrug der Anteil nur 14 Prozent, womit der Anteil unter dem ausländischer Wissenschaftler lag.[21] Unter den Präsidenten bzw. Rektorinnen der 81 staatlichen Universitäten befanden sich keine Ostdeutschen.[26] 2020 trat Gesine Grande als erste ostdeutsche Hochschulpräsidentin an der BTU Cottbus ihr Amt an.[36] Die Historikerin Heike Amos beschrieb in einer 2020 erschienenen Studie die Bedeutung ostdeutscher Physikerinnen vor und nach der Wende. Die ersten beiden weiblichen Physikprofessorinnen an der Freien Universität und der Technischen Universität Berlin stammten aus Ostdeutschland.[37][38]
Der Kulturwissenschaftler Paul Kaiser warf 2017 in einem Artikel in der Sächsischen Zeitung unter der Überschrift „Wende an den Wänden“ dem Dresdner Kunstmuseum Albertinum vor, die kunstgeschichtliche Epoche zwischen 1945 und 1990 „aus der Schausammlung ins Depot entsorgt“ zu haben. Die überwiegend westdeutschen Verantwortlichen hätten „koloniale[…] Attitüden“ an den Tag gelegt, „mit denen man den Ostdeutschen das Sehen“ habe lehren wollen.[39] Die anschließende Debatte diskutierte die Repräsentation von DDR-Kunst in deutschen Museen und wurde im Feuilleton als „Dresdner Bilderstreit“ bezeichnet.[40] Zwischen 1990 und 2021 wurden nur zwei ostdeutsche Künstler eingeladen, um Deutschland bei der Kunstbiennale in Venedig zu vertreten.[41]
In einem Zeit-Artikel mit der Überschrift „Die Dynastien des Ostens“ konstatierten Anne Hähnig und Stefan Schirmer 2016, dass ostdeutsche Schauspieler in Film, Fernsehen und Theater überdurchschnittlich stark repräsentiert seien. Sie führen dies auf die Bedeutung von Schauspielerfamilien zurück, die die Tradition der DDR fortführen konnten. Als Beispiele nennen sie die Schauspieler Matthias Schweighöfer, Anna Maria Mühe, Cosma Shiva Hagen und Robert Gwisdek, deren Eltern in der DDR bekannt geworden waren.[42]
Seit den 1990er Jahren wurden Vorschläge laut, der Diskriminierung Ostdeutscher mit einer Quotenregelung für Organisationen ähnlich der Frauenquote zu begegnen.[43][44] Reiner Haseloff, Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, lehnte die Idee im Gespräch mit seinem baden-württembergischen Amtskollegen Winfried Kretschmann 2015 ab.[45] Die Sozialwissenschaftlerin Frauke Hildebrandt, Tochter der brandenburgischen SPD-Politikerin Regine Hildebrandt, fordert seit 2018 eine Quote von 17 Prozent für Spitzenpositionen, die den Anteil der Ostdeutschen an der deutschen Bevölkerung abbilden solle.[46] Als Ostdeutscher gelte, wer in Ostdeutschland zur Schule ging oder geht. Hildebrandt strebt ein juristisches Gutachten zur Umsetzung einer Selbstverpflichtung im Land Brandenburg an, das Rechtssicherheit in Fragen der Affirmative Action sowie bezüglich der Abgrenzung der Zielgruppe schaffen soll.[47]
Die ehemalige sächsische Grünen-Fraktionschefin Antje Hermenau schlug im Deutschlandfunk vor, für steuerfinanzierte Gehälter eine Quote von 20 Prozent im Bund und 55 Prozent in den ostdeutschen Ländern einzuführen.[48][49] Simone Schmollack kritisierte die Ostdeutschen-Quote in der taz mit dem Argument, der Anteil Ostdeutscher in der deutschen Bevölkerung lasse sich nach 30 Jahren Einheit nicht mehr feststellen, da die Kriterien für die Zugehörigkeit zur Gruppe unklar seien.[50] Der Verfassungsrechtler Hartmut Bauer forderte 2021 im Spiegel eine Quote zur „besonderen Berücksichtigung von Ostdeutschen bei der Personalentwicklung für Führungsaufgaben“.[51] Der in Westdeutschland aufgewachsene thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow lehnte 2021 eine Ost-Quote für die Besetzung des Bundeskabinetts ab.[52] Der in Leipzig geborene Linken-Politiker Sören Pellmann forderte 2022 eine Quotenregelung für Ministerien und oberste Bundesbehörden.[53]
Bereits vor dem Fall der Mauer äußerten Verbände von Übersiedlern aus der DDR Klagen über Diskriminierungserfahrungen in der Bundesrepublik Deutschland.[54] Ein Projekt des Sonderforschungsbereichs 186 „Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf“ der Universität Bremen führte Ende der 1980er Jahre empirische Studien unter 3071 ehemaligen DDR-Bürgern in West-Berlin und Gießen durch, die zwischen 1983 und 1986 ausgereist waren, und befragte sie unter anderem nach ihren Diskriminierungserfahrungen.[55][56] In einer Rezension des Buchs Die Mauergesellschaft (2019) des Historikers Frank Wolff über die deutsch-deutsche Migrationsgeschichte in der Süddeutschen Zeitung kritisierte der Historiker Frank Bösch, dass das Buch wenig zu Diskriminierungserfahrungen geflüchteter DDR-Bürger in der Bundesrepublik enthalte.[57]
Vergleich vor und nach der Wende
Der Leipziger Jugendforscher Peter Förster befragte ab 1987 in einer Längsschnittstudie 1200 Schüler aus Ostdeutschland zu ihrer Meinung zur DDR und später zur Bundesrepublik. Auf eine offene Frage nach erfahrener Diskriminierung gaben 54,1 % der befragten 12–25-jährigen Ostdeutschen an, durch ihre Herkunft benachteiligt worden zu sein.[58]
Regionale Identifikation in Sachsen
Der Soziologe Jan Skrobanek untersuchte in einer empirischen sozialpsychologischen Studie zur regionalen Identifikation der Sachsen aus dem Jahr 2004 sowohl die negative Stereotypisierung von Ausländern als auch die wahrgenommene Diskriminierung der eigenen Gruppe. Er bezieht sich dabei auf Studien zum amerikanischen Phänomen des „Poor white racism“ (siehe White Trash), bei denen nachgewiesen wurde, dass innerhalb einer dominanten Gruppe (z. B. die weiße Mittel- oder Oberschicht) unterlegene Subgruppen (z. B. weiße Arbeiter oder Bauern) ein stärkeres Ausmaß an Ablehnung gegenüber einer Fremdgruppe (z. B. Schwarze) zeigen. Skrobanek macht unter anderem folgende Beobachtungen: Je stärker sich eine Person mit der Gruppe der Sachsen identifiziert, desto stärker nimmt sie die Diskriminierung durch eine überlegene Gruppe wahr; je stärker eine Diskriminierung von in Sachsen lebenden Personen wahrgenommen wird, desto stärker findet eine negative Stereotypisierung der Gruppe „Ausländer“ statt.[59]
Ostdeutsche als „Bürger zweiter Klasse“
Der von der Thüringer Landesregierung beauftragte und von Forschern der Universität Jena herausgegebene „Thüringen-Monitor“ fragte im Zeitraum zwischen 2002 und 2015 danach, ob Ostdeutsche von Westdeutschen als „Menschen zweiter Klasse“ behandelt würden, sowie nach rechtsextremen Einstellungen. Dabei wurde ein Anstieg der wahrgenommenen Diskriminierung verzeichnet. Je stärker diese Meinung ausgeprägt sei, desto verbreiteter seien rechtsextreme Einstellungen, sowohl in der Generation, die die Wende erlebt hat, als auch in der darauffolgenden. Während jene die deutsche Einheit etwas besser als ihre Vorgängergeneration bewertet, nimmt sie eine stärkere Diskriminierung Ostdeutscher wahr. Die Studie bewertet dies als Effekt von Kohorten, nicht von Generationen: Während die Gruppe der 25 bis 34-Jährigen überdurchschnittlich häufig von der Diskriminierung Ostdeutscher überzeugt ist, äußerten die 18- bis 24- sowie 35- bis 44-Jährige die Meinung unterdurchschnittlich häufig.[60]
Eine 2020 veröffentlichte Studie der Bertelsmann-Stiftung fragte Ostdeutsche, ob sie sich als Bürger zweiter Klasse behandelt fühlten. 59 Prozent der Ostdeutschen stimmten zu, 21 Prozent der Westdeutschen konnten das Gefühl nachvollziehen.[61]
Soziologie und Politikwissenschaft
Ab den frühen 1990er Jahren wurden in der Politikwissenschaft Vergleiche der Transformation Ostdeutschlands mit Prozessen der Kolonialisierung gezogen.[62][63][64] Die These einer Kolonialisierung bzw. eines „Anschlusses“ der DDR an die Bundesrepublik wird seither kaum noch vertreten und nur noch von kleinen linksradikalen Gruppen sowie von Vertretern der alten DDR-Wissenschaftselite verteidigt.[65]
Der Ost-Berliner Journalist Olaf Kampmann kritisierte 1990 als Lokalredakteur der West-Berliner Tageszeitung taz die Besetzung von Ost-Berliner Häusern durch West-Berliner als „Kolonialisierung“.[66] 1996 veröffentlichten Wolfgang Dümcke und Fritz Vilmar das auf einer Reihe von Seminaren an der Berliner Humboldt-Universität basierende Buch Kolonialisierung der DDR.[67] Darin wird die Wiedervereinigung als „suizidartige Angliederung des sozialen Organismus Ostdeutschlands an die alte Bundesrepublik“ bezeichnet. Der Politikwissenschaftler Klaus Schroeder kritisierte den Ansatz des Buchs in der FAZ. Er blende nicht nur die hohen Kosten für die Bundesrepublik aus, die gegen eine Bezeichnung Ostdeutschlands als Kolonie sprächen, sondern auch, dass die DDR einen Prozess der Entkolonisierung vom sowjetischen System durchlaufen habe.[68]
Der Soziologe Andrej Holm vertrat im Essay Kolonie DDR – Zur ökonomischen Lage in Ostdeutschland in der Zeitschrift telegraph 1998 die These, dass Ostdeutschland drei Kriterien der Kolonialisierung erfülle: die „politisch-ökonomische Dominanz, die Bereicherung des Mutterlandes und die Verarmung des kolonisierten Gebietes“.[69] Die Linken-Politikerin Katalin Gennburg berief sich in einem Essay im Ost Journal 2017 auf Holm. Sie konstatierte, dass die „Sprachlosigkeit früherer DDR-Eliten seit der Angliederung der DDR an die BRD Ausdruck und Ergebnis einer Kolonialisierungspraxis“ sei.[70]
Die Politologen Hartmut Elsenhans und Andreas Lange vertraten in einem Aufsatz 2004 über die Universität Leipzig nach 1990 die These, dass die Transformation des ostdeutschen Hochschulsystems als „Kolonisierung auf Einladung“ zu beschreiben sei.[71]
Der niederländische Politikwissenschaftler Frank den Hertog berücksichtigte in seiner Dissertation Die Ostdeutschen. Zur gesellschaftlichen Position einer Minderheit in der gesamtdeutschen Realität (2003) die „Potsdamer Elitestudie“ von 1995, nach der die Spitzenpositionen in Ostdeutschland mehrheitlich von Westdeutschen besetzt waren. Obwohl der Osten wirtschaftlich zu einer Kolonie des Westens geworden sei, lasse sich das Konzept des internen Kolonialismus nicht auf Deutschland anwenden, da das Heimatempfinden der Ostdeutschen nicht zerstört, sondern gefördert worden sei. Zwar könne man von einer „relativen Deprivation“ sprechen, sie sei jedoch durch eine „Nested Identity“ aufgefangen worden. Richard David Precht stimmte der Sicht im Cicero-Magazin zu.[72]
2019 veranstaltete Paul Kaiser eine Tagung in Dresden unter dem Titel „Kolonie Ost? Aspekte von ‚Kolonialisierung‘ in Ostdeutschland seit 1990“.[73] Mehrere Medien berichteten darüber.[74][75] Ilko-Sascha Kowalczuk, Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, kritisierte den Vergleich der Transformation Ostdeutschlands mit Kolonialisierung in seinem Buch Die Übernahme (2019). Er verharmlose die Geschichte des Kolonialismus mit Abermillionen Toten.[76]
Yana Milev schrieb 2019 in ihrem Buch Entkoppelte Gesellschaft: „Das Investmentprojekt ‚Aufschwung Ost‘ ist ein Laborfall der Globalisierung. Über eine Aufarbeitung der DDR im Totalitarismus- und Diktaturenvergleich hinaus ist eine Soziologie der Landnahme, des Gesellschaftsumbaus und des strukturellen Kolonialismus in Ostdeutschland längst überfällig.“[77] In einem Aufsatz über „Subordination und Diskriminierung DDR-Sozialisierter“ 2021 spricht sie von einer „neokolonialen Assimilationspolitik“.[78] Ihren Thesen wurde von Ilko-Sascha Kowalczuk[79] und Wolf-Rüdiger Knoll[80] widersprochen.
Die Politologin Ulrike Ackermann sagte 2020 im Deutschlandfunk, die AfD knüpfe in den ostdeutschen Ländern an eine Erzählung an, die die Linke seit vielen Jahren vertrete, „nämlich dass die Ostdeutschen eigentlich ein Opferkollektiv sind, dass sie von den Westdeutschen kolonialisiert worden sind, überrannt worden sind, beraubt ihrer ostdeutschen Identität“.[81]
Der in Thüringen aufgewachsene Literaturwissenschaftler und Publizist Dirk Oschmann vertritt die These der Kolonisierung Ostdeutschlands in seinem Bestseller Der Osten: eine westdeutsche Erfindung, der 2023 eine breite Debatte auslöste.[82][83]
Literatur und Kultur
Der Schriftsteller Heiner Müller bezeichnete die sich abzeichnende Wiedervereinigung im Juli 1990 als „Unterwerfung“[84] und verwies in einem Spiegel-Interview darauf, dass die DDR-Bevölkerung durch die Abhängigkeit von der Sowjetunion den „Status von Kolonisierten“ habe.[85] Der Schriftsteller Günter Grass bezeichnete in seiner am 2. Oktober 1991 in Bitterfeld gehaltenen Bitterfelder Rede den Einigungsvertrag vom 31. August 1990 als „Kolonialordnung“ und westdeutsche Beamte als „Kolonialbeamte“.[86] Die Schriftstellerin Monika Maron kritisierte seine Rede 2009 in ihrem Buch Bitterfelder Bogen.[87][88] Der Dramatiker Rolf Hochhuth beschreibt in seinem Stück Wessis in Weimar (1993) die Abwicklung von DDR-Betrieben durch die Treuhandanstalt. Im Klappentext heißt es: „Hat die deutsche Vereinigung Ostdeutschland zu einer Kolonie der Wessis gemacht? Oder kann das marode Land nur unter großen Opfern – in Ost und West – neu aufgebaut werden?“[89] Zur Treuhand hatten die Journalisten Peter Christ und Ralf Neubauer 1991 die Streitschrift Kolonie im eigenen Land veröffentlicht.[90] Das Bekennerschreiben der Roten Armee Fraktion nach der Ermordung des Treuhand-Präsidenten Detlev Rohwedder 1991 sprach von der ehemaligen DDR als Kolonie der Bundesrepublik und von Rohwedder als ihrem Statthalter.[91]
Thomas Krüger, Leiter der Bundeszentrale für politische Bildung, bezeichnete 2017 in einem Interview mit der Berliner Zeitung die Erfahrung der Dominanz westdeutscher Eliten als „kulturellen Kolonialismus“.[92] Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, kritisierte in einem Artikel in der Zeit im gleichen Jahr, dass das an der Stelle des Palasts der Republik gebaute Berliner Humboldt Forum zwar die deutsche Kolonialgeschichte thematisiere, aber dabei den „innerdeutschen Kolonialismus“ zwischen West und Ost außer Acht lasse, der sich auch im Abriss des DDR-Gebäudes manifestiert habe.[93] Der Journalist Michael Pilz kritisierte die Ausstellung 2021 auf WDR 5 dafür, dass sie Exponate aus der Kolonialzeit neben Gegenständen aus dem Palast der Republik zeige und damit die Überzeugung junger Ostdeutscher verstärken könne, die die Wiedervereinigung als eine Kolonialisierung durch den Westen sehen.[94] In seinem Buch Empowerment Ost (2020) spricht Oberender von der „kolonialen Matrix der westdeutschen Macht in Ostdeutschland“.[95]
Dirk Oschmann beklagt in seinem Buch Der Osten: eine westdeutsche Erfindung die Diskursherrschaft des Westens über den Osten: Er meint damit eine kommunikative Asymmetrie, in der der Ostdeutsche nur als Aussageobjekt, nicht aber als Aussagesubjekt vorkämen (d. h. Westdeutsche sprechen über Ostdeutsche, aber nicht umgekehrt). Er führt an, dass in den Medien nur wenige Beispiele für faire, respektvolle, sachliche und selbstkritische Berichterstattung über den Osten zu finden seien, ansonsten erfolgten Entmündigung, Belehrung und Verletzung. Oschmann fordert deshalb, dass der Osten endlich Wege finden muss, einen gemeinsamen Raum öffentlichen Sprechens und Verhandelns zu konstituieren, in dem sich Osten und Westen auf Augenhöhe begegnen können.
Die Deutungshoheit, d. h. wie die DDR und ihre Geschichte zu interpretieren sind, ist zentraler Aspekt seines Buches.[83]
Rechtswissenschaft
Die Frage, inwiefern Ostdeutsche juristisch als Opfer von Diskriminierung betrachtet werden können, hängt von der Frage ab, ob sie als Ethnie gelten können. Sie wurde bisher von allen Gerichtsurteilen negativ beantwortet. Eine rechtswissenschaftliche Studie zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz aus dem Jahr 2018 argumentiert, ein Ostdeutscher sei als „Deutscher in Deutschland nicht als schutzbedürftig“ einzustufen, da er „nicht der Gefahr systematischer Diskriminierung ausgesetzt“ sei.[96][1] Im Handbuch Diskriminierung (2017) werden Ostdeutsche als „statusniedrige Gruppe“ bezeichnet.[97] Der Grundrechte-Report 2019 beschreibt die strukturelle Diskriminierung Ostdeutscher als Grundrechtsproblem,[98] die Ausgabe von 2021 plädiert für eine Erweiterung rechtlicher Diskriminierungskategorien,[99] erkennt also an, dass eine Subsumtion unter den Begriff Ethnie chancenlos ist.
Soziologie und Ethnologie
Neben der juristischen Einschätzung gibt es soziologische und ethnologische Diskussionen zur Frage. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1995 plädierte der amerikanische Politikwissenschaftler Marc Howard dafür, Ostdeutsche im Sinne des von Benedict Anderson geprägten Konzepts der „imagined community“ („vorgestellte Gemeinschaft“) als ethnische Gruppe („ethnicity“) zu verstehen.[100] Der Historiker Jörg Ganzenmüller verwendet das Konzept ebenfalls, ohne die ostdeutsche Identität unter einer ethnischen Gemeinschaft zu subsumieren.[101] Der in Frankfurt lehrende Soziologe Manfred Clemenz bezeichnete sein Buch Wir könnten nicht besser klagen. Ostdeutsche Lebensläufe im Umbruch (2001) im Vorwort als „Expedition in eine fremde Ethnie“.[102] Der Schriftsteller Martin Ahrends warf ihm in der Zeit vor, durch die Transkription der Interviews „mit allerart Undeutlichkeiten, Interjektionen, Schmatz- und Schnalzlauten“ den Eindruck zu erwecken, „als hätte man es nicht nur mit einer ,fremden Ethnie‘, sondern auch mit deren primitiver Artikulation zu tun (,ebmt‘ für ,eben‘, ,Schangse‘ für Chance, ,mmh pff‘ für Ich-weiß-nicht-was)“.[103]
Politik
2015 erregte die thüringische Grünen-Politikern Katrin Göring-Eckardt in einer Generaldebatte im Bundestag mit einem Vergleich von Ostdeutschen und Menschen mit Migrationshintergrund Aufsehen. Sie sagte: „30 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland haben einen Migrationshintergrund, dabei habe ich die ‚Ossis‘ noch nicht mitgerechnet.“[104] Die sächsische SPD-Politikerin Petra Köpping nahm den Satz in ihrem Buch Integriert doch erstmal uns! (2018) zum Anlass für einen Vergleich von Ostdeutschen und Migranten.[105] Die in Brandenburg geborene SPD-Politikerin Franziska Giffey sagte 2021: „Ich bin jemand, der einen ostdeutschen Migrationshintergrund hat.“[106][107] Alke Wierth hatte sie bereits 2015 während ihrer Kandidatur als Bürgermeisterin von Berlin-Neukölln in der taz als „Migrantin“ bezeichnet.[108]
Soziologie
Die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan verglich 2019 in einer Studie[109] die Diskriminierungserfahrungen von muslimischen Migranten und Ostdeutschen.[110] Beide bezeichnet sie in ihrem im gleichen Jahr erschienenen Buch Die postmigrantische Gesellschaft als „nicht-dominante Gruppen“.[111] Die Journalistin Jana Hensel, die 2002 mit dem Buch Zonenkinder für eine ostdeutsche Identität plädiert hatte, lobte Foroutans Studie in der Zeit.[112] Der Spiegel-Kolumnist Jan Fleischhauer, der in einem Artikel 2016 das mediale „Ostler-Bashing“ kritisiert hatte,[113] bezeichnete den Ansatz der Studie als Identitätspolitik, die sich auf beliebige weitere vermeintliche Opfergruppen ausweiten lasse.[114] Das Onlinemagazin Übermedien kritisierte die Studie als unausgewogen, da sie die Migrationserfahrungen von Menschen nicht-deutscher Herkunft in Ostdeutschland nicht berücksichtige. Der Artikel wies zudem darauf hin, dass Foroutan Hensels Publikationen zitiere.[115] Die beiden traten wiederholt zusammen auf und veröffentlichten 2020 ein gemeinsames Buch im Aufbau-Verlag.[116] Der Schriftsteller Ingo Schulze verglich die Erfahrungen von Ostdeutschen und Migranten 2021 in seiner Rede zur Verleihung des Kunstpreises der Stadt Dresden.[117]
Der Soziologe Steffen Mau kritisiert in seinem Buch Lütten Klein über die gleichnamige Plattenbau-Siedlung in Rostock 2019 Analogien zwischen Ostdeutschen und Migranten aus muslimisch geprägten Ländern. Die „Unterprivilegierung und gesellschaftliche Randstellung der Ostdeutschen, ob struktureller oder symbolischer Natur“ werde in diesen Debatten „zu einer Diskriminierungserzählung verdichtet“. Ostdeutsche würden so „migrantisiert“.[118] In verschiedenen Beiträgen kritisierte Mau „ostdeutsche Identitätspolitik“.[119] Es gebe keinen „Ossismus“ (analog zu „Rassismus“).[120]