Gotthold Herbert Gerhard Oestreich (* 2. Mai 1910 in Zehden an der Oder; † 5. Februar 1978 in Kochel am See) war ein deutscher Historiker mit dem Schwerpunkt Frühe Neuzeit. Oestreich bekleidete Lehrstühle für Geschichte der politischen Theorien am Otto-Suhr-Institut in Berlin (1960–1962), für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Hamburg (1962–1966) und für Neuere Geschichte an der Universität Marburg (1966–1975). Er gehörte in den sechziger und siebziger Jahren zu den einflussreichsten Vertretern der sich formierenden deutschen Frühneuzeitforschung.

Leben und Wirken

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Gerhard Oestreich war der Sohn eines Pfarrers. Seine Mutter war als Lehrerin tätig. Nachdem sein Vater bereits 1912 verstorben war, zog die Familie nach Berlin. 1929 legte er das Abitur am Helmholtz-Realgymnasium ab. Oestreich studierte anschließend Geschichte, Deutsch, Religionswissenschaften und Philosophie in Berlin und im Sommersemester 1935 in Heidelberg. Besonders prägten ihn die akademischen Lehrer Robert Holtzmann, Hermann Oncken und Fritz Hartung. Bei Hartung in Berlin wurde er 1935 mit einer verwaltungsgeschichtlichen Arbeit über den brandenburgisch-preußischen Geheimen Rat vom Regierungsantritt des Großen Kurfürsten bis zur Neuordnung von 1651 promoviert. Als Stipendiat der DFG arbeitete er von 1935 bis 1939 an der Herausgabe der Briefe des preußischen Heeresreformers Gerhard von Scharnhorst. Die Ergebnisse der Edition gingen 1945 verloren. Oestreich war zudem von 1935 bis 1939 als Assistent am Wehrpolitischen Institut der Universität Berlin beschäftigt.[1] Er versuchte dort die neue Disziplin der „Wehrgeschichte“ zu etablieren. Seine Habilitation scheiterte am Kriegszustand in Berlin. Im Jahr 1939 wurde Oestreich zum Kriegsdienst eingezogen. Im Zweiten Weltkrieg geriet er in amerikanische Kriegsgefangenschaft.

Von 1947 bis 1949 war Oestreich wissenschaftlicher Mitarbeiter der „Deutschen Literaturzeitung“ bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften. Beim Verlag Walter de Gruyter übernahm er 1949 die Leitung der wissenschaftlichen Redaktion und gab von 1950 bis 1954 „Kürschners Gelehrtenkalender“ und 1952 „Minerva. Jahrbuch der Gelehrten Welt“ heraus. Er habilitierte sich 1954 an der Freien Universität Berlin mit der Arbeit Antiker Geist und moderner Staat bei Justus Lipsius (1547 bis 1606), die erst posthum erschien (1989). An der Deutschen Hochschule für Politik lehrte er zunächst als Privat- dann als Diätendozent. Im Jahr 1958 wurde er zum außerplanmäßigen Professor ernannt. Oestreich wurde 1960 als außerordentlicher Professor auf den neu eingerichteten Lehrstuhl für Geschichte der politischen Theorien am Otto-Suhr-Institut berufen; ein Jahr später wurde zum ordentlichen Professor ernannt. Von April 1962 bis Dezember 1966 hatte er einen Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Geschichte am Historischen Seminar der Universität Hamburg inne. Anschließend lehrte er bis zu seiner Emeritierung 1975 als Professor für Neuere Geschichte an der Universität Marburg. Eine Berufung an die Justus-Liebig-Universität Gießen hatte er im Wintersemester 1966/67 abgelehnt. Oestreich war in den 1960er Jahren einer der Gründungsherausgeber der juristisch-historischen Fachzeitschrift „Der Staat“. Zu seinen akademischen Schülern in der Hamburger und Marburger Zeit gehörten der Verfassungshistoriker Hartwig Brandt sowie die Frühneuzeitforscher Thomas Klein und Kersten Krüger.

Oestreich gilt als einer der Mitschöpfer der „Frühen Neuzeit“ als eigener Fachdisziplin innerhalb der Geschichtswissenschaft. Mit dem von ihm geprägten Begriff der „Sozialdisziplinierung“ lieferte er ein Deutungskonzept des frühneuzeitlichen Verstaatlichungsprozesses.[2] Wegweisend waren seine Arbeiten zum Frühparlamentarismus, zur Geschichte der Menschenrechte und zur Ständeforschung. Grundlegend wurde auch seine verfassungsgeschichtliche Überblicksdarstellung „Verfassungsgeschichte vom Ende des Mittelalters bis zum Ende des alten Reiches“ im „Gebhardt“, dem Handbuch zur deutschen Geschichte (1955). Oestreich gab die Gesammelten Abhandlungen des Verfassungs- und Sozialhistorikers Otto Hintze von 1962 bis 1967 in drei Bänden neu heraus. Er ist der Verfasser der ersten deutschsprachigen Monographie, die eine allgemeine und vergleichende „Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ bietet.[3] Er war Mitglied in der Commission Internationale pour l'Histoire des Assemblées d'État, der Johannes-Althusius-Gesellschaft und der Nederlands Historisch Genootschap.

Oestreich war mit Brigitta Oestreich (1925–2011) verheiratet, die verschiedene Studien und eine Edition über die Historikerin Hedwig Hintze veröffentlichte. Er wurde auf dem alten Dorffriedhof in Kochel am See beigesetzt. An der Universität Rostock wurde 1994 zu seinen Ehren von seiner Witwe eine Oestreich-Stiftung ins Leben gerufen.[4] Die Stiftung fördert historische Forschungen auf dem Gebiet der Frühen Neuzeit.

Schriften (Auswahl)

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Ein Schriftenverzeichnis erschien in: Brigitta Oestreich (Hrsg.): Strukturprobleme der frühen Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze. Duncker & Humblot, Berlin 1980, ISBN 3-428-04635-8, S. 403–429.

Monographien

Herausgeberschaften

Literatur

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Anmerkungen

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  1. Peter N. Miller: Nazis and Neo-Stoics: Otto Brunner and Gerhard Oestreich Before and After the Second World War. In: Past and Present. Bd. 176, 2002, S. 144–186, hier S. 169.
  2. Zum Konzept der Sozialdisziplinierung: Lars Behrisch: Sozialdisziplinierung. In: Friedrich Jäger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit. Band 12: Silber – Subsidien. Metzler, Stuttgart u. a. 2010, ISBN 978-3-476-02002-4, Sp. 220–229; Winfried Schulze: Gerhard Oestreichs Begriff „Sozialdisziplinierung in der frühen Neuzeit“. In: Zeitschrift für historische Forschung 14, 1987, S. 265–302.
  3. Peter Baumgart: Gerhard Oestreich zum Gedächtnis. In: Historische Zeitschrift. Bd. 227, 1978, Nr. 1, S. 251–256, hier: S. 254.
  4. Homepage der Oestreich-Stiftung.
Personendaten
NAME Oestreich, Gerhard
ALTERNATIVNAMEN Oestreich, Gotthold Herbert Gerhard
KURZBESCHREIBUNG deutscher Historiker
GEBURTSDATUM 2. Mai 1910
GEBURTSORT Zehden an der Oder
STERBEDATUM 5. Februar 1978
STERBEORT Kochel am See