Harpyie (Jacob van Maerlant, Der Naturen Bloeme; Flandern, um 1350)
Harpyie, Kupferstich von Matthäus Merian, um 1650, aus der Historia Naturalis des John Johnston, der maßgeblichen Tierkunde des 17. Jahrhunderts

Eine Harpyie ([harˈpyːjə], altgriechisch ἅρπυια hárpyia, deutsch ‚reißender Sturm‘, lateinisch harpeia) ist ein geflügeltes Mischwesen der griechischen Mythologie in Vogelgestalt mit Frauenkopf.

Mythologie

Die Harpyien verkörpern die Sturmwinde[1] und sind die Töchter des Meerestitanen Thaumas und der Okeanide Elektra.[2] Ihre Anzahl ist unbestimmt, doch werden nie mehr als zwei Harpyien zugleich benannt. Namentlich treten auf:

Die Schwester der Harpyien ist Iris, die Göttin des Regenbogens, Gattin des Westwindes Zephir.

In den früheren Erzählungen der griechischen Mythologie werden sie als schöne Frauen mit gelocktem Haar[2] und Vogelflügeln beschrieben, später sind sie hässliche hellhaarige Dämonen.[7] Die Harpyien wohnen in einer Höhle auf Kreta und müssen auf Geheiß des Zeus Seelen von Toten in den Tartaros tragen oder Leute töten, die seinen Zorn erregen. Die Harpyien werden als schnell wie der Wind und als unverwundbar beschrieben.

Bei Homer werden sie für das Verschwinden des Odysseus[8] und den schnellen Tod der Pandarostöchter[9] verantwortlich gemacht.

In der Argonautensage spielen sie eine wichtige Rolle: Sie quälen den blinden Seher Phineus, indem sie ihm das Essen vom Tisch rauben und mit ihrem Kot ungenießbar machen.[10] Zetes und Kalais, Söhne des Nordwindes Boreas und Gefährten der Argonauten, vertreiben schließlich die Harpyien.[11]

Der römische Dichter Vergil lässt in der Aeneis[12] dagegen diesen Kampf als ein Abenteuer des aus dem zerstörten Troja geflohenen Aeneas auf den Strophaden erzählen: „Es waren Vögel mit den Gesichtern von Mädchen, äußerst scheußlich war der Unrat ihres Magens, hakenförmig waren ihre Hände und immer bleich vor Hunger ihre Gesichter.“[13] Aeneas begegnet Harpyien auch in den Vorhallen der Unterwelt im 6. Buch, wo sie neben Gorgonen und Kentauren hausen. Ovid bezieht sich in seinen Metamorphosen nur knapp auf die „jungfräulichen Vögel“ in der Phineusepisode der Argonautensage und fasst das Abenteuer des Aeneas damit zusammen, dass die geflügelte Aello (ales Aello) die Trojaner von den Strophaden jagt.[14]

Bildtradition

Ein berühmtes Monument der frühen Antike in Xanthos, um 480 v. Chr., wird als Harpyienmonument benannt, doch beruht dieser Name auf einer heute angezweifelten Deutung der harpyienähnlichen Mischwesen auf den Reliefs dieser Grabanlage in Xanthos. Beispiele aus der griechischen Vasenmalerei sind die Phineusschale in der Antikensammlung des Martin von Wagner Museums,[15] sowie zwei Schalen in der Villa Giulia in Rom.

Seit dem Mittelalter gehören Darstellungen der Harpyien zum Symbolbereich des Bösen, der Unterwelt und der Habsucht. Sie erscheinen in Drolerien der Buchmalerei und der Bauplastik am Außenbau mittelalterlicher Kirchen, in der Regel ohne szenischen Zusammenhang. Von den vielleicht etwas weniger vogelgestaltigen Sirenen sind sie kaum zu unterscheiden. In der Renaissance werden dann diese Wesen nicht nur in dekorativen Zusammenhängen, etwa im Geranke von Arabesken dargestellt, sondern auch im Kontext der antiken Erzählungen, wie in den Fresken der Argonauten- und Äneissage von Annibale Carracci im Palazzo Fava in Bologna.

Im 13. Gesang von Dantes Inferno werden die Selbstmörder von Harpyien gepeinigt. William Blake und Gustave Doré illustrierten im 19. Jahrhundert diese Szene. Während sie bei Goya in den Caprichos noch unheilvolle Verkörperungen des Bösen darstellen, werden Harpyien im Kunsthandwerk des Klassizismus, ähnlich wie die Greife und Sphingen, zu rein dekorativen Reminiszenzen an die Motivwelt des Altertums.

Rezeption

Eine Rezeption der Harpyie geschah in der Literatur und im Medium Film in folgenden Werken (Auswahl):

Siehe auch

Harpyie als Schildhalter, Gemeinde Eemsdelta
Harpyie im Wappen des Landkreises Aurich

sowie die leicht mit den Harpyien zu verwechselnden Mischwesen

Literatur

Anmerkungen

  1. Homer, Odyssee 20,66–78
  2. a b c d e Hesiod, Theogonie 265–267
  3. nach Wilhelm Heinrich Roscher: Aëllopus. In: Wilhelm Heinrich Roscher (Hrsg.): Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Band 1,1, Leipzig 1886, Sp. 86 (Digitalisat). auch Nikithoe oder Aëllopus.
  4. Homer, Ilias 16,149 ff.
  5. Homer, Ilias 16,150 und 19,400. Zephir zeugte mit Podarge Balios und Xanthos, die Pferde des Achilleus, die somit mit diesem verwandt sind, da Achills Mutter Thetis als Nereide und Tochter der Okeanide Doris die Nichte der Okeanide Elektra ist. Siehe auch Vergil, Aeneis 3,210–255
  6. Vergil, Aeneis 3,245
  7. Vergil, Aeneis 3,216–218; Hyginus Mythographus, Fabulae 14
  8. Homer, Odyssee 1,241; 14,371
  9. Homer, Odyssee 20,66–78
  10. Bibliotheke des Apollodor 1,9,21
  11. Zusammenfassung bei Konrad Seeliger: Argonautensage. In: Wilhelm Heinrich Roscher (Hrsg.): Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Band 1,1, Leipzig 1886, Sp. 503–510 (Digitalisat)..
  12. Vergil, Aeneis 3,210–255
  13. Übersetzung von Vergil, Aeneis 3,215 durch Rainer Lohmann: [1]; Robert J. Rabel: The Harpies in the Aeneid. In: The Classical Journal. Bd. 80, Nr. 4, 1985, ISSN 0009-8353, S. 317–325, JSTOR:3296813.
  14. Ovid, Metamorphosen 7,3 f. und 13,709 f.
  15. Museumsseite zum Objekt