Das Pange lingua „Besinge, Zunge“ des Venantius Fortunatus ist ein lateinischer Hymnus; er trägt den Titel In Honorem sanctae Crucis „Zu Ehren des heiligen Kreuzes“. Bei Kreuzfesten und während der Karwoche ist er Bestandteil des Stundengebets der Kirche. Feierlich gesungen wird er bei der Kreuzverehrung während der Liturgie am Karfreitag.
Die vollklingenden packenden Anfangsworte Pange lingua kehren in etwa 100 späteren Hymnen wieder, so auch im eucharistischen Hymnus Pange lingua von Thomas von Aquin. Dieser ließ sich auch hinsichtlich Strophenform und inhaltlichem Aufbau vom Pange lingua des Venantius Fortunatus inspirieren.
Das Pange lingua des Venantius Fortunatus hat zehn Strophen bestehend aus drei trochäischen Tetrametern. Diese werden heute oft auf zwei Zeilen aufgeteilt, sodass sechszeilige Strophen entstehen.
Eine besondere Bekanntheit hat die achte Strophe. Sie beinhaltet das Gedicht Crux fidelis, das als Hymnus der Karmette oft auch selbstständig vertont worden ist, so etwa von Anton Bruckner, von Franz Liszt in seiner sinfonischen Dichtung „Hunnenschlacht“ und in der Lukas-Passion von Krzysztof Penderecki. In der Karfreitagsliturgie wird es als Kehrvers im Wechsel mit dem Dulce lignum, dem dritten Vers der achten Strophe, gesungen.
Venantius Fortunatus verfasste den Hymnus Pange lingua um 569 oder 570 n. Chr. anlässlich der Schenkung einer Kreuzpartikel durch den oströmischen Kaiser Justin II. an die heilige Königin Radegundis in Poitiers für deren Kloster.
Vom 9./10. Jahrhundert an wurde der Hymnus allmählich ständiges Kleinod im benediktinischen und römischen Stundengebet der Passionszeit, der beiden Kreuzfeste und namentlich bei der liturgischen Kreuzverehrung des Karfreitags; hierfür ist er auch im Lateran-Ritus um 1140 bezeugt. Gleiche Verwendung fand er im mozarabischen Karfreitagsgottesdienst.
Die echte alte Textgestalt wurde unter Papst Urban VIII. erheblich verändert, jedoch unter Pius X. mit nur noch wenigen Änderungen, die aber zum Teil das Versmaß verletzen, für das römische Graduale zurückgewonnen. Unter Paul VI. wurde der Text im Graduale Romanum von 1973/1979 weiter, aber noch nicht vollständig an den Urtext angepasst, in dem bildhafte Gedanken und zarte Stimmung vorherrschen.
Es folgt der Original-Text des Pange lingua von Venantius Fortunatus, wie ihn die Quellenforscher Dreves und Blume wiedergegeben haben. Beigefügt ist eine wörtliche Übersetzung. Eine gereimte Übertragung (Von dem lorbeerreichen Streite) steht z. B. in der 1963 erschienenen lateinisch-deutschen Ausgabe des Römischen Messbuches von 1962.
Lateinischer Original-Text von Venantius Fortunatus In honore Sanctae Crucis |
Wörtliche Übersetzung Zu Ehren des Heiligen Kreuzes |
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Pange, lingua, gloriosi proelium certaminis |
Besinge, Zunge, den Kampf des glorreichen Wettstreits |
Der Hymnus Pange lingua von Venantius Fortunatus hat rasch und kraftvoll schreitenden Rhythmus, der durch das Versmaß ermöglicht wird. Es handelt sich um einen katalektischen trochäischen Tetrameter, katalektisch deswegen, weil das letzte der vier Metren nicht mehr vollständig ist; ihm fehlt eine Silbe. Nach zwei Metren (d. h. nach vier Versfüßen oder acht Silben) haben trochäische Tetrameter-Verse eine feste Zäsur, an der stets ein Wort endet, weswegen sie heute oft zweizeilig geschrieben werden. In metrischer Notation:
Dabei wurde, dem Beispiel Vergils bei Zäsuren in Hexametern folgend, zum Beispiel im dritten Vers der ersten Strophe (Qualiter redemptor orbis immolatus vicerit) die Silbe bis von orbis lang gemessen. Sie liegt nämlich am Ende der Zäsur und bleibt deswegen mit einem Konsonanten geschlossen. Nur wenn nach orbis keine Sprechpause wäre, würde man ...-re-demp-to-ror-bi-sim-mo-la-tus-... sagen, wodurch die Silbe dann bi hieße und kurz wäre. Wegen der Zäsur nach orbis spricht man aber: ...-re-demp-to-ror-bis || im-mo-la-tus-...; die Silbe bis bleibt also geschlossen und somit lang.
Die aus drei Versen oder auch sechs Zeilen bestehenden Strophen unterscheiden sich dann äußerlich nicht von den Strophen des eucharistischen Hymnus Pange lingua von Thomas von Aquin. Thomas von Aquin hat jedoch seine trochäischen Verse in akzentuierender Metrik geschrieben, da diese im Hoch- und Spätmittelalter vorherrschend war, während Venantius Fortunatus, der in der zweiten Hälfte des sechsten Jahrhunderts gelebt hat, noch der in Antike und Frühmittelalter üblichen quantitierenden Dichtung verbunden war.
Der Original-Text war lange Zeit nicht nur kleineren, sondern zum Teil auch größeren liturgischen Änderungen unterworfen, die in den Liber Usualis, in ältere Ausgaben des Graduale Romanum sowie in ältere Messbücher eingegangen sind. Zu Letzteren gehört auch das Missale Romanum von 1962, das durch das Motu proprio Summorum pontificum wieder in öffentlichen Gebrauch gekommen ist. Im Liber Usualis sowie in älteren Messbüchern fällt einem insbesondere die Ersetzung des proelium (Gefecht, Kampf) durch lauream (den Lorbeerbaum) ins Auge, da es erst das vierte Wort des Hymnus ist.
Die aktuelle Ausgabe des Graduale Romanum ist in vielen Punkten wieder zum Original-Text des Venantius Fortunatus zurückgekehrt. Die noch verbleibenden Änderungen fallen kaum auf. Sie beziehen sich zum Teil nur auf Schreibweise oder Grammatik, wobei oft das Versmaß missachtet wird. Teils aber ändert sich die Bedeutung, worunter die Poesie leidet (etwa bei cingit (er / sie / es umschnürt) anstatt des poetischen pingit (er / sie / es zeichnet), welches besagt, dass die straffe Binde in Form einer Hülle Füße, Arme und Beine des Kindes in der Krippe nachbildet; das Gedicht verehrt die Binde als eine Art Jesus-Skulptur).
Die Änderungen im Einzelnen:
Bei der Kreuzverehrung am Karfreitag kommt der achten Strophe eine ausgezeichnete Bedeutung zu. Sie wird in zwei Teile, das Crux fidelis und das Dulce lignum, unterteilt, die abwechselnd als Kehrverse gesungen werden. Dabei beinhaltet das Crux fidelis nur die ersten zwei Verse (oft auch vierzeilig geschrieben) der achten Strophe, das Dulce lignum den letzten Vers dieser Strophe.
Liturgischer Text nach dem Graduale Romanum (1973/79) | Wörtliche Übersetzung |
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Crux fidelis, inter omnes arbor una nobilis, |
Treues Kreuz, du einzig edler unter allen Bäumen, |
Meist aber versteht man unter dem Titel Crux fidelis die gesamte achte Strophe einschließlich des Dulce lignum. Sie ist als Hymnus der Karmette oft auch selbstständig vertont worden, so etwa von Anton Bruckner und in der Lukas-Passion (Penderecki). Der Text zu solchen Vertonungen stammt dabei aus älteren liturgischen Versionen. Am bekanntesten ist diejenige, die unter Papst Pius X. ins Graduale Romanum gelangt ist. Diese wurde ebenso in den Liber Usualis aufgenommen, wo sie heute noch steht, denn der Liber Usualis wurde 1964 das letzte Mal herausgegeben, hat also die Neufassung von 1973 unter Papst Paul VI. nicht mehr erlebt.
Während die oben zitierte aktuelle liturgische Version des Crux fidelis und Dulce lignum sich nur durch das Vertauschen der Worte flore und fronde von der Original-Version unterscheidet, war der liturgische Text seit Pius X., der in den Ausgaben des Graduale Romanum vor 1973 sowie im Liber Usualis zu finden ist, noch von weiteren Abweichungen vom Urtext erfasst:
Wenn auch die frühere liturgische Fassung des Crux fidelis und des Dulce lignum das quantitierend-trochäische Versmaß verletzten, so gehorchte sie dennoch dem trochäischen Versmaß im Sinne akzentuierender Metrik, die in Hoch- und Spätmittelalter üblich war. Speziell die achte Pange-lingua-Strophe von Venantius Fortunatus ist nämlich, wie auch die zweite, vierte und siebte, trochäisch in beiderlei Hinsicht, nämlich in quantitierender wie auch in akzentuierender Metrik.
Sowohl bei der Kreuzverehrung am Karfreitag als auch im Stundengebet (Brevier) der Karwoche und der Kreuzfeste wird der Hymnus mit einer zusätzlichen Strophe zur Doxologie (Ehre sei dem Vater) abgeschlossen. Bei der Karfreitagsliturgie folgt ihr noch der Dulce-lignum-Kehrvers. Im Stundengebet der Karwoche dient sie als Abschluss der ersten fünf Strophen, die Bestandteil der Matutin sind, wie auch als Abschluss der Strophen 6 bis 10, die zu den Laudes gesungen werden.
Die Doxologie-Strophe ist im Graduale Romanum von 1973/79 gegenüber früheren liturgischen Versionen ziemlich stark abgewandelt. Sie folgt ebenso wie die Strophen 2, 4, 7 und 8 dem trochäischen Versmaß sowohl in quantitierender als auch in akzentuierender Metrik.
Liturgischer Text nach dem Graduale Romanum (1973/79) | Wörtliche Übersetzung |
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Aequa Patri Filioque, inclito Paraclito, |
Dem Vater und dem Sohne, dem erlauchten Beistand |
Im Graduale Romanum (in der aktuellen wie auch in älteren Editionen) und im Liber Usualis sowie in den Messbüchern ist zur Kreuzverehrung am Karfreitag folgender Ablauf vorgesehen:
Im darauffolgenden Wechselgesang singt eine Seite alle anderen Strophen. Auf jede dieser Strophen antwortet die andere Seite alternierend mit dem Crux fidelis (ohne Dulce lignum) bzw. dem Dulce lignum. Im Einzelnen:
Was die Melodie des Hymnus betrifft, so wurde im Graduale Novum I (Regensburg 2011) auf den Seiten 145 bis 149 erstmals diejenige Melodie restituiert, die zu den adiastematischen Neumen des Cantatoriums (Cod. 359 der Stiftsbibliothek St. Gallen), folio 100, passt.
Im Breviarium Romanum wird das Pange lingua des Venantius Fortunatus an Kreuzfesten und während der Karwoche in folgender Weise gebetet oder gesungen:
Zur Matutin:
Zu den Laudes: