Hartmut Haenchen (2012)

Hartmut Haenchen (* 21. März 1943 in Dresden) ist ein deutscher Dirigent, der seit 2006 auch die niederländische Staatsbürgerschaft besitzt.

Leben

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Hartmut Haenchen ist der Sohn des Gartenbauinspektors Fritz Haenchen und dessen Frau Eva, Tochter des Rosenzüchters Victor Teschendorff. Von 1953 bis 1958 war Haenchen unter Kreuzkantor Rudolf Mauersberger Mitglied des Dresdner Kreuzchors. Er besuchte die Kreuzschule und von 1958 bis 1960 die erweiterte Oberschule in Dresden.[1] Mit fünfzehn Jahren dirigierte er als Kantor sein erstes Konzert.[2] Als Jugendlicher kam er nach eigenen Aussagen auch zum ersten Mal mit der Staatssicherheit in Berührung, die ihn wegen des Verteilens von Flugblättern beobachtete.[2] Weil er zunächst die Aufnahmeprüfung für das Fach Dirigieren nicht bestand, nahm er ein Gesangsstudium auf, das er mit dem Examen beendete.[2] Bis 1966 studierte er dann Chor- und Orchesterleitung an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden (bei Rudolf Neuhaus und Horst Förster[3]). Während seines Studiums wurde er zweimal von der Musikhochschule verwiesen.[1] 1967 studierte er bei Arvīds Jansons und Jewgeni Mrawinski am Rimski-Korsakow-Konservatorium Leningrad. Außerdem hospitierte er in den 1970er Jahren bei Pierre Boulez im Rahmen der Bayreuther Festspiele und bei Herbert von Karajan in Berlin.

1966 begann er seine berufliche Karriere als Direktor (Nachfolger von Horst Förster) der Robert-Franz-Singakademie in Halle/Saale und Dirigent der Philharmonie Halle (heute Staatskapelle). Rückblickend bewertete Johannes Unger Haenchens Arbeit positiv. Nach Unger geriet Haenchen in Konflikt mit dem neuen Chefdirigenten Olaf Koch, weswegen er 1972 Halle verließ.[4] Im Jahr 2006 kam er zurück zum Ort seines Karrierebeginns und brachte das Auftragswerk Halleluja 2006 von Siegfried Matthus zur Uraufführung.

Bei der 1968 durch den Domkantor Erich Schmidt im Meißner Dom geleiteten Uraufführung von Wolfgang Hufschmidts Meißner TeDeum mit dem Gewandhausorchester Leipzig, der Meißner Kantorei und der Sopranistin Barbara Hoene übernahm Haenchen die Baritonstimme und das Dirigat des zweiten Orchesters.

1972/73 war er als Erster Kapellmeister an den Bühnen der Stadt Zwickau tätig. An der Deutschen Staatsoper Berlin gab er in dieser Zeit mit Mussorgskys Boris Godunow sein Debüt. Als ständiger Gastdirigent war er von 1973 bis 1986 und nach der deutschen Wiedervereinigung erneut von 1993 bis 1995 für das Haus und die Staatskapelle Berlin, deren Chefdirigent Otmar Suitner war, tätig. Mit der Dresdner Philharmonie, die unter dem Chefdirigat von Günther Herbig stand, arbeitete er von 1973 bis 1976 als Dirigent zusammen und leitete den Philharmonischen Chor Dresden. 1976 verantwortete er im Kulturpalast Dresden die Uraufführung von Wilfried Krätzschmars Capriccio (1995 führte er seine Reigen für Orchester urauf). Von 1974 bis 1976 und von 1984 bis 1988 war er zudem Gastdirigent an der Staatsoper Dresden, wo er 1985 Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke von Siegfried Matthus uraufführte.

Von 1976 bis 1979 übernahm er die Mecklenburgische Staatskapelle als Chefdirigent und war gleichzeitig Musikdirektor des Mecklenburgischen Staatstheaters in Schwerin. Nach der Schweriner Aufführung von Friedrich Goldmanns Opernwerk R. Hot verlor er seine Stelle, und die zugesagte Berufung an die Komische Oper Berlin wurde annulliert;[5] 1981 übernahm schließlich Rolf Reuter die Orchesterleitung in Berlin. Ein Chefdirigat an einem führenden Klangkörper der DDR blieb Haenchen zeitlebens verwehrt.[1]

Von 1980 bis 2014 war er künstlerischer Leiter des Berliner Kammerorchesters Carl Philipp Emanuel Bach und lehrte zudem von 1980 bis 1986 Dirigieren an der Dresdner Musikhochschule, wo er 1985 zum Honorarprofessor ernannt wurde. Außerdem war er von 1980 bis 1996 ständiger Gastdirigent an der Komischen Oper Berlin. 1981 brachte er mit der Gruppe Neue Musik Hanns Eisler Werke von Reiner Bredemeyer, Paul Heinz Dittrich, Friedrich Goldmann und Krzysztof Meyer zur Uraufführung.

1986 verließ er die DDR als sogenannter „Selbstfreikäufer“[6] und damit Devisenbringer für die DDR.[7] Er beschrieb, dass er sich verpflichten musste, zwanzig Prozent der Westgage an die DDR zu leisten.[1] In Amsterdam wurde er Chefdirigent der Niederländischen Philharmonie und des Niederländischen Kammerorchesters (bis 2002). Zeitgleich war er bis 1999 Generalmusikdirektor der Niederländischen Oper. Der Amsterdamer Oper blieb er in der Position des Ersten Gastdirigenten von 1999 bis 2007 verbunden, und von 2008 bis 2014 gastierte er dort. Von 1989 bis 1993 bzw. seit 2010 ist er Gastdirigent des Royal Opera House in Covent Garden.

Bei den Dresdner Musikfestspielen war er von 2003 bis 2008 Intendant, von 2006 bis 2010 und ab 2021 Gastdirigent an der Opéra National de Paris, von 2011 bis 2015 am Teatro Real in Madrid, 2013 an der Scala in Mailand. Weiterhin wurde er Gastdirigent am Grand Théâtre de Genève (2015) und an der Königlichen Kapelle Kopenhagen (2016). 2016/17 übernahm er kurzfristig (für Andris Nelsons) das Dirigat der Parsifal-Neuinszenierung von Uwe Eric Laufenberg bei den Bayreuther Festspielen. An der Bayerischen Staatsoper München dirigierte er Alban Bergs Wozzeck 2019, ebenfalls am Opernhaus Zürich 2020 sowie an der Wiener Staatsoper Parsifal und am Metropolitan Opera House Tristan und Isolde. Am Royal Opera House Covent Garden dirigierte er 9 Premieren und an der Opéra National de Paris 5 Premieren. Zuletzt 2022 Chowanschtschina von Modest Mussorgsky Ferner stand er u. a. am Pult der Berliner Philharmoniker, des Concertgebouw-Orchesters, des Gewandhausorchesters, der Münchner Philharmoniker, der Staatskapelle Dresden, der Staatskapelle Berlin, dem Orchestre de Paris, dem Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia, der Königliche Kapelle Kopenhagen, beim Royal Stockholm Philharmonic Orchestra, beim Belgian National Orchestra, am Teatro La Fenice, Venedig sowie bei Orchestern in den USA, Kanada und Asien.[8] Im Rahmen des Projekts Œuvres Suisses brachte er 2016 mit dem Orchestre de la Suisse Romande in der Victoria Hall in Genf Jean-Luc Darbellays ANGES. L’univers mystérieux de Paul Klee für Orchester zur Uraufführung. 2023 die Ringuraufführung von Thomas Larcher „Time“. Seit 2023 ist er Prinzipal Guestconductor des North Netherlands Symphony Orchestra und Ehrendirigent des Nederlands Philharmonisch Orkest, Amsterdam.

Um seine Dokumente der Forschung zugänglich zu machen, übergab Haenchen 2013 seinen Vorlass der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden.[9]

Auszeichnungen und Ehrungen (Auswahl)

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Beim Georg Friedrich Händel-Wettbewerb in Halle 1969 erhielt er den ersten Preis für Gesang. 1971 erreichte er beim Carl-Maria-von-Weber-Wettbewerb in Dresden (Dirigieren) den ersten Platz. 1979 und 1983 wurde er mit dem Kritikerpreis der Musikbiennale Berlin ausgezeichnet.[10] 1984 erhielt er den Kunstpreis der DDR.

1988 und 1993 wurde er mit dem Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet sowie 1988 und erneut 1993 mit dem Deutschen Schallplattenpreis. 1990 (für Orfeo ed Euridice) und 1992 (für Mitridate) erhielt er den britischen Laurence Olivier Award. 1996 wurde er als erster Deutscher zum Ritter im Orden vom Niederländischen Löwen ernannt. Seit 1996 ist er Ehrenmitglied der Vereinigung Vrienden van de Opera. Haenchen ist seit 1998 ordentliches Mitglied der Klasse „Musik“ der Sächsischen Akademie der Künste in Dresden. Die Stadt Frankfurt/Oder verlieh ihm 1999 die Ehrenplakette für seine Verdienste um das Werk von Carl Philipp Emanuel Bach. 1999 wurde er Ehrenmitglied der Niederländischen Wagner-Gesellschaft. 2000 folgte die Ehrenbürgerschaft der Stadt Amsterdam. 2006 bekam er die niederländische Staatsbürgerschaft ehrenhalber. Im Oktober 2008 erhielt er das Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland. 2010 wurde er mit dem Grand Prix de la Critique Paris ausgezeichnet. Ein Jahr später erhielt er für die DVD Gustav Mahler Sinfonie Nr. 6 den Diapason d’or Kritikerpreis Paris. Der Prix de l'Europe Francophone wurde ihm 2011 für die Parsifal-Produktion in Brüssel zuteil. Im September 2013 wurde er Ehrendoktor der Dresdner Musikhochschule.[11] Bei der Kritikerumfrage der Opernwelt 2016/17 wurde er zum „Dirigenten des Jahres“ ernannt. 2018 erhielt Haenchen den Richard-Wagner-Preis der Richard-Wagner-Stiftung Leipzig.[12] 2023 wurde Hartmut Haenchen Ehrendirigent der Niederländischen Philharmonie Amsterdam.

Sonstiges

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Im März 2007 trat Haenchen aus Protest gegen den „polemischen und unsachlichen Ton“ der offenen Briefe des CDU-Bundestagsabgeordneten Arnold Vaatz im Rahmen des Streits um die Dresdner Waldschlößchenbrücke (Dresdner Brückenstreit) aus der CDU aus.[13]

Veröffentlichungen

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Diskografie

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Über 130 Schallplatten und/oder CDs und DVDs bei Berlin Classics, BMG, Capriccio, Philips, EMI, Sony Classical, Vanguard, Opus Arte, Euroart, ica und anderen. Darunter zwei komplette Aufnahmen von Der Ring des Nibelungen, die Einspielung von Der fliegende Holländer, Gustav Mahlers Sinfonien Nr. 1, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9. Soeben bei Berlin Classics erschienen: Johann David Heinichen: „La Gara degli Dei“ (Weltpremiere), C.P.E. Bach: „Die letzten Leiden des Erlösers“, W.A. Mozart: „Die letzten drei Sinfonien“ und als historische Aufnahme bei EuroArts das Konzert zum 25-jährigen Bestehen des Kammerorchesters C.Ph.E. Bach im September 1994: C.P.E. Bach: „Die letzten Leiden des Erlösers“, Deutsche Grammophon erschien die Aufnahme der Premiere von Parsifal von den Bayreuther Festspielen 2016.

Chronologische Auswahl

Bücher

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Film

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Der niederländische Dokumentarfilm De hemel boven Dresden (dt. Der Himmel über Dresden) über das Leben Hartmut Haenchens erhielt auf dem Schweizer Film-Festival in Montreux 2015 die Goldene Palme; seine Autoren sind Paul Cohen und Martijn van Haalen.[14]

Ausstellung

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Literatur

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Commons: Hartmut Haenchen – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

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  1. a b c d Hartmut Haenchen in: Internationales Biographisches Archiv 42/2016 vom 18. Oktober 2016 (ds) Ergänzt um Nachrichten durch MA-Journal bis KW 20/2018, im Munzinger-Archiv (Artikelanfang frei abrufbar)
  2. a b c Thomas Bürger, Karl-Wilhelm Geck: Vom Dresdner Kreuzchor zur Mailänder Scala. Ein Interview mit Hartmut Haenchen, der am 21. März 70 Jahre alt wird. In: BIS – Das Magazin der Bibliotheken in Sachsen (2013) 1, S. 52–55, hier: S. 53 (online).
  3. Eckhard Roelcke: Der Taktstock: Dirigenten erzählen von ihrem Instrument. Zsolnay, Wien 2000, ISBN 3-552-04985-1, S. 114.
  4. Johannes Unger: Wolfgang Unger: Leben für die Musik. Books on Demand, Norderstedt 2011, ISBN 978-3-8423-3937-8, S. 25–27.
  5. Michael Kraus: Die musikalische Moderne an den Staatsopern von Berlin und Wien 1945–1989. Paradigmen nationaler Kulturidentitäten im Kalten Krieg. J.B. Metzler Verlag, Stuttgart 2017, ISBN 978-3-476-04352-8, S. 176.
  6. Julian Caskel: Haenchen, Hartmut. In: Julian Caskel, Hartmut Hein (Hrsg.): Handbuch Dirigenten. 250 Porträts. Bärenreiter, Kassel 2015, ISBN 978-3-7618-2174-9, S. 181–182, hier: S. 181.
  7. Michael Kraus: Die musikalische Moderne an den Staatsopern von Berlin und Wien 1945–1989. Paradigmen nationaler Kulturidentitäten im Kalten Krieg. J.B. Metzler Verlag, Stuttgart 2017, ISBN 978-3-476-04352-8, S. 194 f.
  8. Hartmut Haenchen. In: Julia Spinola: Die großen Dirigenten unserer Zeit. Mit ausführlichem Lexikonteil. Henschel, Berlin 2005, ISBN 3-89487-480-5, S. 226f.
  9. Thomas Bürger, Karl-Wilhelm Geck: Vom Dresdner Kreuzchor zur Mailänder Scala. Ein Interview mit Hartmut Haenchen, der am 21. März 70 Jahre alt wird. In: BIS – Das Magazin der Bibliotheken in Sachsen (2013) 1, S. 52–55, hier: S. 52 (online).
  10. Hartmut Haenchen (Stand 1985), theaterderzeit.de, abgerufen am 29. August 2018.
  11. Ehrendoktorwürde für Hartmut Haenchen. musik-in-dresden.de, abgerufen am 25. September 2013.
  12. Leipziger Richard-Wagner-Preise 2018 verliehen. In: www.richard-wagner-stiftung-leipzig.de. Abgerufen am 22. Juni 2018.
  13. Offener Brief an Arnold Vatz (PDF, 38 kB), abgerufen am 13. Februar 2010.
  14. Information zum Film sowie Trailer und Film (niederländische und deutsche Version) in der Mediathek der Künstler-Website haenchen.net, abgerufen am 30. Juli 2016.
Personendaten
NAME Haenchen, Hartmut
KURZBESCHREIBUNG deutscher Dirigent
GEBURTSDATUM 21. März 1943
GEBURTSORT Dresden