Der musikalische Expressionismus entstand um 1906. Im Unterschied zum musikalischen Impressionismus, der die Wahrnehmung äußerer Erscheinungen der Dinge abbildet, formulieren die expressionistischen Kunstrichtungen die Seelenregungen des Menschen.

Vortrag von Gerhard Tischer beim Immermannbund in Düsseldorf 1919. Plakat Fritz Lewy

Charakterisierung

Theodor W. Adorno charakterisiert:

„Das expressionistische Ausdrucksideal ist insgesamt eines der Unmittelbarkeit des Ausdrucks. Das bedeutet ein Doppeltes. Einmal sucht die expressionistische Musik alle Konventionselemente der traditionellen zu eliminieren, alles formelhaft Erstarrte, ja alle den einmaligen Fall und seine Art übergreifende Allgemeinheit der musikalischen Sprache – analog dem dichterischen Ideal des ‚Schreis‘. Zum andern betrifft die expressionistische Wendung den Gehalt der Musik. Als dieser wird die scheinlose, unverstellte, unverklärte Wahrheit der subjektiven Regung aufgesucht. Die expressionistische Musik will, nach einem glücklichen Ausdruck von Alfred Einstein, Psychogramme geben, protokollarische, unstilisierte Aufzeichnungen vom Seelischen. Sie zeigt sich darin der Psychoanalyse nahe.“[1]

Stilistisch ist insbesondere die veränderte Funktion der Dissonanzen auffällig, die gleichberechtigt neben Konsonanzen treten und nicht mehr aufgelöst werden – was daher auch „Emanzipation der Dissonanz“ genannt wurde. Das tonale System wurde weitestgehend aufgelöst und zur Atonalität erweitert. Zu den musikalischen Charakteristika gehören: extreme Tonlagen, extreme Lautstärkeunterschiede (dynamische Gegensätze), zerklüftete Melodielinien mit weiten Sprüngen; metrisch ungebundene, freie Rhythmik und neuartige Instrumentation.

Phasen des Expressionismus

Während man Werke vom Beginn des 20. Jahrhunderts von Schönberg, Skrjabin und Ives als Frühexpressionismus bezeichnet,[2] weist ab 1907 das frei atonale Werk von Schönberg, Webern und Berg (Wiener Schule) am klarsten die Eigenschaften auf, die zur Beschreibung eines musikalischen Expressionismus herangezogen werden. Zu Beginn der 20er-Jahre mit Einführung von Zwölftontechnik und vermehrter Rückbesinnung auf klassische Formen geht dieser zentrale Bereich des Expressionismus in der Musik zu Ende.

Wie der Expressionismus insgesamt hat sich der musikalische Expressionismus vornehmlich im deutschsprachigen Raum entwickelt. Während viele Komponisten später den expressionistischen Stil verließen, blieben Schönberg und seine Schüler diesem Ausdrucksbereich weitgehend treu. Die Gruppe um Schönberg verwirklichte am radikalsten die Emanzipation der Dissonanz, die zum wichtigsten Ausdrucksmittel des Expressionismus wurde.

Wenn auch der Begriff des musikalischen Expressionismus in der Regel anhand von Werken der Wiener Schule erklärt wird, findet er auch anderorten Verwendung. So wurde zwar vorgeschlagen, in manchen Werken Paul Hindemiths den „eigentliche[n] musikalische[n] Expressionismus“ zu sehen,[3] sein Schaffen um 1920 wird aber eher wegen der gesungenen Texte zur Richtung gezählt und zwar mitunter als „halbherziger“ Beitrag, oder die Zuordnung kommt durch Zusammenfassung von Expressionismus und neuer Sachlichkeit als eine Bewegung zu Stande, wodurch eine merkwürdige Integration des musikalischen Neoklassizismus in den Expressionismus stattfindet.[4]

Rezeption

Der Begriff des Expressionismus wurde erst 1919 auf die Musik angewendet, als für die Literatur und bildende Kunst bereits dessen Ende verkündet wurde; dabei fand eine lebhafte Diskussion in Zeitschriften statt, während um 1920 die Musik durch Druck und Aufführungen erst wenig Verbreitung gefunden hatte.[5]

Stilistische Eingrenzung

Die musikalische Stilbestimmung hat die Aufgabe, die Hauptmomente des expressionistischen Stils darzustellen. Folgende Hauptmomente (Stilkriterien) lassen sich nachweisen:[6]

Traditionelle Formen im musikalischen Expressionismus

Anton Webern äußerte 1933 in seinen „Vorträgen“ bezogen auf die Situation um 1910:

„Alle Werke, die seit dem Verschwinden der Tonalität bis zur Aufstellung des neuen Zwölftongesetzes geschaffen wurden, waren kurz, auffallend kurz. – Was damals Längeres geschrieben wurde, hängt mit einem tragenden Text zusammen […] – Mit der Aufgabe der Tonalität war das wichtigste Mittel zum Aufbau längerer Stücke verloren gegangen. Denn zur Herbeiführung formaler Geschlossenheit war die Tonalität höchst wichtig. Als ob das Licht erloschen wäre! – so schien es.“[7]

Durch die Atonalität geht der harmonische Zusammenhang der Kompositionen verloren. Während Schönberg und besonders Webern beim Verzicht auf traditionelle Formen, deren Grundlage die Tonalität war, zu kleinformatigen Sätzen fanden, die sie gerne als „Stücke“ bezeichneten, führte Berg klassische Formen fort, wodurch er leichter längere Werkdauern ausfüllen konnte.

Hauptwerke

Vorformen / Frühexpressionismus

Vorformen expressionistischer Musik: heftig kontrastreiche, in Dissonanzen schwelgende Werke

Hochexpressionismus

Spätexpressionismus

Literatur

chronologisch

Einzelnachweise

  1. Theodor W. Adorno: Musikalischer Expressionismus, S. 60.
  2. Karl Heinrich Wörner: Geschichte der Musik: ein Studien- und Nachschlagebuch, Vandenhoeck & Ruprecht 1972, S. 512.
  3. Günther Metz: Über Paul Hindemith und die Schwierigkeit, seine Musik zu rezipieren, Pfau 1998, S. 8.
  4. Stephen Luttmann: Paul Hindemith, A Guide to Research, Routledge 2005, S. 164f.
  5. Rudolf Stephan: Expressionismus. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2, Sachteil, Band 3, Spalte 244.
  6. Die folgenden Absätze nach: Will Hofmann: Expressionismus. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 1, Band 3, Sp. 1658–1671.
  7. Anton Webern: Der Weg zur Neuen Musik. Vortrag 16. Februar 1932, S. 57 f.