Die Kurzgeschichte ist eine moderne literarische Form oder Gattung der Prosa, deren Hauptmerkmal in ihrer Kürze liegt. Dies wird oft durch eine starke Komprimierung des Inhaltes erreicht. Der Begriff ist eine Lehnübersetzung des englischen Begriffs short story.

Geschichte

Entstehung

Die Entstehung der Kurzgeschichte hängt eng mit der Entwicklung des Zeitschriftenwesens im 19. Jahrhundert zusammen: „Zeitschriften boten den amerikanischen Autoren bessere Absatzmöglichkeiten als der Buchmarkt.“[1] Die Kurzgeschichte entstand als short story in der englischsprachigen, insbesondere der amerikanischen Literatur. Rip Van Winkle (1819) und The Legend of Sleepy Hollow (1820) von Washington Irving gelten als erste Kurzgeschichten der Weltliteratur. Edgar Allan Poe thematisierte die Kurzgeschichte auch in seinen ästhetischen Schriften. Nachdem die amerikanische Kurzgeschichte nach O. Henry und Stephen Crane um 1900 viel von ihrer Originalität verloren und auf das Niveau „mechanisch reproduzierbarer Plot(s)“ mit teils moralisierendem Schluss herabgesunken war, verdankt sie Sherwood Anderson eine Neubelebung, der sie wieder auf das Niveau zurückführte, das sie von Washington Irving bis zum Tode von Crane gehalten hatte.[2] Anderson verwarf die Forderung nach einem spannenden Plot und einer Schlusspointe und setzte an dessen Stelle die slice of life story, die einen kurzen, aber entscheidenden Lebensabschnitt szenenhaft behandelt und den Charakter der Protagonisten aufscheinen lässt, ohne ihn vollständig zu durchleuchten. Das bedeutet nicht, dass gut gemachte plot stories mit ihrem Überraschungsschluss in der Folgezeit ihre Daseinsberechtigung verloren hätten.[3] Doch gewann die Symbolik wie schon im 19. Jahrhundert erneut Bedeutung als Strukturprinzip.

Zu den wichtigen amerikanischen Autoren der Folgezeit gehören Sinclair Lewis, F. Scott Fitzgerald, William Faulkner, Ernest Hemingway, Henry Slesar, Bernard Malamud und Grace Paley.

Im deutschsprachigen Raum wurde die Kurzgeschichte erstmals um 1900 aufgegriffen. Hier musste sie sich zunächst gegen andere etablierte Kurzformen (vor allem Novelle, auch Anekdote und Kalendergeschichte) durchsetzen. In der Folge wurde die Form auch von Autoren des Expressionismus (etwa Alfred Döblin oder Robert Musil) verwendet.[4]

In Deutschland

Die „deutsche Kurzgeschichte“ ist vor allem das Produkt der „Kahlschlag-“ oder „Trümmerliteratur“ nach 1945. Dieser Begriff bezeichnete in den Debatten der Zeit den Versuch, einen literarischen Neubeginn zu setzen, eine literarische „Stunde Null“ (Alfred Andersch) auszurufen. Indem sie auf die Form der Kurzgeschichte zurückgriffen, bezogen sich die Autoren dieser Zeit nicht nur auf amerikanische Vorbilder – als besonders einflussreich gilt Hemingway –, sondern setzten sich mit kurzen Texten in einer einfachen und sachlichen Sprache bewusst von den umfangreichen, pathetischen und ideologisch aufgeladenen Werken der Literatur unter dem Nationalsozialismus ab. Der neue Stil entsprach dem Programm der Gruppe 47, deren Autoren wesentliche Beiträge zur Entwicklung der Gattung leisteten.

„Die Männer des Kahlschlags […] wissen, oder […] ahnen es doch mindestens, daß dem neuen Anfang der Prosa in unserem Land allein die Methode und die Intention des Pioniers angemessen sind. Die Methode der Bestandsaufnahme. Die Intention der Wahrheit. Beides um den Preis der Poesie. Wo der Anfang der Existenz ist, ist auch der Anfang der Literatur.“

Wolfgang Weyrauch: Tausend Gramm. Sammlung neuer deutscher Geschichten. Hamburg 1949, S. 194–219, hier S. 217.[5]

Bis in die fünfziger Jahre setzen sich viele Kurzgeschichten kritisch mit der Nachkriegszeit auseinander. Vor allem Wolfgang Borchert thematisiert unmittelbar die Probleme der Kriegsheimkehrer, die Armut Ende der 1940er Jahre (etwa in Das Brot), die Schwierigkeiten der Soldaten, sich im Frieden zurechtzufinden. Kern seiner Kurzprosa ist dabei die grundlegende Ablehnung des Krieges und die Suche nach „Menschlichkeit in den Ruinen“ (so in Nachts schlafen die Ratten doch). Auch bei anderen Autoren steht nicht die große Politik im Vordergrund, vielmehr gehen sie in einfach umrissenen Situationen allgemein-menschlichen Phänomenen wie Kommunikationsmangel, Statusdenken, Denunziantentum (so etwa Ilse Aichinger in Das Fenster-Theater) und Unverständnis zwischen den Generationen (z. B. Peter Bichsel in Die Tochter oder Walter Helmut Fritz in Augenblicke) nach.

Bekannte Kurzgeschichtenautoren der Nachkriegszeit (mit ihren Erstlingswerken in der Gattung) sind Ilse Aichinger (Das vierte Tor, 1945), Wolfdietrich Schnurre (Das Begräbnis, 1946), Wolfgang Borchert (Sammlung Die Hundeblume, 1947), Elisabeth Langgässer (Sammlung Der Torso, 1947), Heinrich Böll (Der Mann mit den Messern, 1948), Wolfgang Weyrauch (Sammlung Tausend Gramm, 1949), Siegfried Lenz (Sammlung So zärtlich war Suleyken, 1955), Alfred Andersch (Sammlung Geister und Leute, 1958), Gabriele Wohmann (Erzählungen Mit einem Messer, 1958), Marie Luise Kaschnitz (Sammlung Lange Schatten, 1960), Hans Bender (Fondue oder Der Freitisch, 1961), Heinz Piontek (Sammlung Kastanien aus dem Feuer, 1963) und Erwin Strittmatter (Ein Dienstag im Dezember, 1971).

Ab Mitte der 1960er Jahre verlor die Kurzgeschichte einen Teil ihrer Bedeutung. Mit dem Aufschwung des Wirtschaftswunders veränderten sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Die Kurzgeschichte, die ihrem Wesen nach laut Ruth J. Kilchenmann „aggressiv, provozierend, antibürgerlich, erregend“ ist, verlor nicht nur die Thematik der Erschütterung der unmittelbaren Nachkriegszeit, sondern passte immer weniger in eine bürgerliche Gesellschaft. Sowohl die inzwischen etablierten Autoren der Nachkriegszeit als auch die junge Schriftstellergeneration wandten sich anderen literarischen Formen zu.[6]

Weitere Komprimierung und Reduktion führten zur Kürzestgeschichte, zu deren Autoren unter anderem Peter Bichsel, Kurt Marti, Helga M. Novak, Thomas Bernhard und Ror Wolf zählen.

Entwicklungen

Die Verleihung des Literaturnobelpreises 2013 an Alice Munro, deren Werk ausschließlich aus Kurzgeschichten besteht, hat der Gattung starke Aufmerksamkeit verschafft. In den Zeiten des Internets erlebt sie darüber hinaus in zahlreichen Portalen ein Revival.

Merkmale

Gattungsprinzip der Kurzgeschichte ist ihre „qualitativ angewandte Reduktion und Komprimierung, die alle Gestaltungselemente einbezieht und sich dementsprechend auf die Suggestivkraft der Kurzgeschichte auswirkt.“[7] Es gibt keine einheitlichen Merkmale, die auf alle Werke zutreffen, die als „Kurzgeschichte“ bzw. „short story“ bezeichnet werden. Trotzdem lassen sich einige Merkmale finden, die vor allem für die deutsche Kurzgeschichte der Jahre 1945–1955 kennzeichnend sind. Als übergreifende ästhetische Qualitäten erscheinen:

Daneben lassen sich Erzähltechnik und Sprache sowie Themen, Handlung und Personen, wie folgt, charakterisieren.

Erzähltechnik und Sprache

Themen, Handlung und Personen

Viele Autoren verstehen die Kurzgeschichte als offene Gattung und experimentieren mit verschiedenen Elementen anderer Genres, etwa Aspekten von Fabeln, Märchen oder Sagen.

Literatur

Textsammlungen

Interpretationshilfen

Forschungsliteratur

Commons: Kurzgeschichte – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wiktionary: Kurzgeschichte – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Fußnoten

  1. Wolfgang Martynkewicz: Edgar Allan Poe. Reinbek bei Hamburg 2003, S. 63.
  2. Michael Hanke: Einleitung zu Ders. (Hrsg.): Amerikanische Short Stories des 20. Jahrhunderts. Reclam, Stuttgart 1998, S. 9.
  3. Hanke 1998, S. 10.
  4. Vgl. Harenberg Lexikon der Weltliteratur. Dortmund 1994, s. v. „Kurzgeschichte“.
  5. Zitiert nach Seiten der Universität Tromsø zur Gattung Kurzgeschichte (Memento vom 27. Februar 2008 im Internet Archive)
  6. Ruth J. Kilchenmann: Die Kurzgeschichte – Formen und Entwicklung. In: Wolfgang Salzmann (Hrsg.): Siebzehn Kurzgeschichten, mit Materialien. Klett, Stuttgart 1982, S. 108 f.
  7. Leonie Marx: Kurzgeschichte. In: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Herausgegeben von Walther Killy, Gütersloh und München 1988, S. 498 f.