Wolfdietrich Schnurre (* 22. August 1920 in Frankfurt am Main; † 9. Juni 1989 in Kiel) war ein deutscher Schriftsteller. Er schrieb Kurzgeschichten, einen Roman, Fabeln, Tagebücher, Gedichte, Hörspiele, Fernsehspiele und Kinderbücher, die er auch selbst illustrierte. Schnurre gehörte der Gruppe 47 an und las mit Das Begräbnis den ersten Text ihres Gründungstreffens 1947. Zu seinen bekanntesten Werken gehören der „Roman in Geschichten“ Als Vaters Bart noch rot war (1958) und daraus die Kurzgeschichte Jenö war mein Freund sowie die Aufzeichnungen Der Schattenfotograf (1978). Für sein Werk wurde Schnurre mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem 1983 mit dem Georg-Büchner-Preis.

Wolfdietrich Schnurre bei einer Lesung in Rendsburg, 1967

Leben

Grabstätte

Wolfdietrich Schnurre war der Sohn von Otto Schnurre (1894–1979), einem Bibliothekar und Ornithologen aus dem Umfeld von Oskar Heinroth.[1] Er verbrachte die ersten Jahre seines Lebens in Frankfurt am Main. 1928 zog er mit seinem Vater nach Berlin, wo er eine sozialistische Volksschule und danach ab 1935 ein humanistisches Gymnasium besuchte.[2]

Von 1939 bis 1945 nahm er als Soldat am Zweiten Weltkrieg teil. Aus seiner ersten Ehe mit Edith Ulivelli (auch: Ulli Benning, später: Esther Dayan-Ulivelli) ging der spätere Autor und Regisseur Rainer Schnurre (* 1945) hervor.[3] Nach Kriegsende kehrte Wolfdietrich Schnurre aus Westfalen, wohin er im April 1945 geflohen war, nach Berlin zurück. Anfangs lebte er in Ost-Berlin und wurde zunächst Redaktionsvolontär beim Ullstein-Verlag.[4] Nach dem Verbot des sowjetischen Kulturoffiziers, in westlichen Zeitschriften zu publizieren, wechselte er 1946 nach West-Berlin. In den folgenden Jahren arbeitete er als Theater- und Filmkritiker für die Deutsche Rundschau und andere Berliner Zeitungen.

Schnurre wurde 1947 Mitbegründer der „Gruppe 47“ und Mitglied des P.E.N.-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland, aus dem er 1962 aus Protest gegen dessen Schweigen zum Bau der Berliner Mauer austrat.[5] Ab 1950 war er freier Schriftsteller. 1964 erkrankte Schnurre an einer schweren Polyneuritis. 1965 nahm sich seine Ehefrau Eva, geborene Mertz, das Leben. 1966 heiratete er die Graphikerin Marina Kamin. Gemeinsam adoptierten sie einen kleinen Jungen. In den letzten Jahren seines Lebens lebte er in Felde in der Nähe von Kiel. Sein Grab auf dem Waldfriedhof Zehlendorf ist seit November 2010 ein Ehrengrab des Landes Berlin.

Werk

Wolfdietrich Schnurre war ein bedeutender Erzähler der westdeutschen Nachkriegsliteratur. Neben zahlreichen Kurzgeschichten verfasste er Fabeln, Tagebücher, Gedichte, Hörspiele, Fernsehspiele, einen Roman und seit Mitte der 1960er Jahre auch Kinderbücher, die er teilweise selbst illustrierte. Sehr bekannt wurde seine Zigeunergeschichte Jenö war mein Freund von 1958, die das öffentliche Tabu brach, das bis weit in die 1960er in Westdeutschland in Bezug auf den Porajmos herrschte; auch diese hatte er selbst illustriert.[6]

Schnurres bekanntestes Buch Als Vaters Bart noch rot war trug ihm den Ruf eines humorvollen Erzählers ein. Er selbst sah seinen Humor als „Gratwanderung“.[7] Er verstand sich vor allem als engagierter, zeitkritischer, im weitesten Sinn politischer Autor und wurde auch von Kritikern so wahrgenommen. Marcel Reich-Ranicki nannte ihn einen „militanten Kauz“[8] und „Ruhestörer“.[9] Bereits das 1953 erschienene fiktive Tagebuch Sternstaub und Sänfte. Aufzeichnungen des Pudels Ali enthält Spitzen gegen restaurative Tendenzen der Adenauer-Ära sowie gegen den Literaturbetrieb der frühen Bundesrepublik. In der Eine Chronik untertitelten Parabel-Sammlung Das Los unserer Stadt (1959) verschärfte Schnurre diese Kritik. Seiner Besorgnis über die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik gab er unter anderem in der Kurzgeschichte Das Manöver Ausdruck. Eine erste Bilanz seines Lebens und Schreibens zog Schnurre in dem Aufzeichnungsband Der Schattenfotograf, der ein Verkaufserfolg wurde. Neben Lebenserinnerungen enthält dieser Band Aphorismen, Erzählfragmente, Notizen zu Lektüren und poetologische Reflexionen. Während Schnurre an diesem Buch schrieb, verfasste er auch die Dialogsammlung Ich brauch dich, in der er vollständig auf eine Erzählinstanz verzichtete und nur die Figuren sprechen ließ. Nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit dem Judentum und der deutschen Schuld gegenüber den Juden veröffentlichte Schnurre 1981 den umfangreichen und vielschichtigen Roman Ein Unglücksfall, mit dem er das Thema „der mißglückten deutsch-jüdischen Symbiose“[10] bearbeitete. Jüdisches Leben im zeitgenössischen (West-)Berlin porträtierte die 1985 ausgestrahlte 13-teilige Fernsehserie Levin und Gutman, für die Schnurre das Drehbuch geschrieben hatte.

Schnurre, seit 1959 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt, erhielt 1958 den Preis der Jungen Generation des Berliner Kunstpreises, 1959 den Immermann-Preis, 1962 den Georg-Mackensen-Literaturpreis, 1981 das Bundesverdienstkreuz, 1982 den Literaturpreis der Stadt Köln, 1983 den Georg-Büchner-Preis[11] und 1989 posthum den Kulturpreis der Stadt Kiel.

Seine Kurzgeschichte Das Begräbnis war der erste Text, der beim Gründungstreffen der Gruppe 47 im September 1947 am Bannwaldsee gelesen wurde.[4] Denselben Text las Schnurre noch einmal im September 1977 in Saulgau zum Abschluss einer Wiederbegegnung der inzwischen inaktiven Gruppe.[12]

Werke

Literatur

Einzelnachweise

  1. Schnurre, Otto in der Deutschen Biographie, abgerufen am 24. November 2018.
  2. Bernd Wähner: Schnurre wuchs im Ortsteil auf, doch den Schriftsteller kennen hier nur wenige. In: Berliner Woche. 22. April 2018 (berliner-woche.de [abgerufen am 24. November 2018]).
  3. Jörg Becker: In Schatten und Schuld. In: Wolfdietrich Schnurre: Kritiken. Edition Text + Kritik, München 2010, S. 75.
  4. a b Katharina Blencke-Dörr: Schnurre, Wolfdietrich. In: Deutsche Biographie. Abgerufen am 24. November 2018.
  5. Marina Schnurre im Gespräch mit Dieter Kassel: „Er war politisch durch und durch“. In: Deutschlandfunk Kultur. 20. August 2010 (deutschlandfunkkultur.de [abgerufen am 24. November 2018]).
  6. Wieder in: Jenö war mein Freund. Geschichten. Mit 3 Zeichnungen. Hirschgraben, Frankfurt 1960; häufige Neuausgabe in Schul-Anthologien; auch in Adalbert Keil (Hrsg.): Die Prophezeiung. Zigeunergeschichten (= Goldmanns Gelbe TB. 1622). München 1965, S. 9–12. (Anthologie, zuerst Kurt Desch, ebd. 1964)
  7. Wolfdietrich Schnurre: Interview mit Mathias Adelhoefer und Andreas Wendt. In: Mathias Adelhoefer: Wolfdietrich Schnurre ein deutscher Nachkriegsautor. Mit einer Vorbemerkung von Marina Schnurre. Centaurus-Verlagsgesellschaft, Pfaffenweiler 1990, S. 96.
  8. Marcel Reich-Ranicki: Deutsche Literatur in West und Ost. Neuausgabe. DVA, Stuttgart 1983, S. 159.
  9. Marcel Reich-Ranicki: Nachwort. In: Wolfdietrich Schnurre: Die Erzählungen. Walter-Verlag, Olten 1966, S. 429.
  10. Wolfdietrich Schnurre: Der Schattenfotograf, München (Paul List Verlag) 1978 S. 127.
  11. Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung - Auszeichnungen - Georg-Büchner-Preis - Wolfdietrich Schnurre. Abgerufen am 24. November 2018.
  12. Hans Werner Richter: Ein Bussard der vom Himmel fiel. In: Ders.: Im Etablissement der Schmetterlinge: einundzwanzig Porträts aus der Gruppe 47. Hanser Verlag, München 1986, S. 245.